Kino: Entfesselte Körper, blutender Mond

Nr. 36 –

Im Gefängnisdrama «Night of the Kings» erzählt ein junger Mann um sein Leben, während sich um ihn herum die Gemeinschaft neu formt. Der Film von Philippe Lacôte verbindet afrikanische Erzähltraditionen mit der intensiven Körperlichkeit des Gefängnisses – und begeistert.

Es geht um Leben und Tod: «Roman» (Bakary Koné) muss die Gesellschaft hinter Gittern eine Nacht lang mit Geschichten unterhalten. Still: Xenix Film

Zu Beginn klingt er noch etwas unsicher, der vom Gefängnischef als «Roman» auserkorene junge Mann (Bakary Koné), der die ganze Nacht lang Geschichten erzählen soll. Mit dünner Stimme erklärt er: «Wenn Gott sagt, dass man ein Dieb werden soll, dann wird man ein Dieb. Wenn er sagt, dass man zum Mörder geboren ist, dann wird man ein Mörder. Und wenn er sagt, dass ich ‹Roman› sei, dann bin ich das.» Dann beginnt er, dessen Grossmutter bereits eine «Griot», eine Geschichtenerzählerin war, mit seiner Geschichte.

Er erzählt von seiner Jugend im Quartier Sans Lois von Abidjan und davon, wie er da auf Zama King, den Anführer der Strassengang «Mikroben», traf, und erntet enthusiastischen Beifall von den Gefangenen, die in der Geschichte bereits vollkommen aufgehen, einzelne Motive gar spontan darstellen wie im Improvisationstheater – es sei denn, «Roman» hält sich mit langweiligen Details wie Jahreszahlen oder anderen objektiven Informationen auf, die hier niemanden interessieren. Man muss es wie der andere Insasse machen, der, als er «Roman» seine Lebensgeschichte schildert, bei einem Moment vor seiner Geburt beginnt, als er vielleicht noch Wind war oder eine Schlange.

«Roman», dessen richtigen Namen wir nie erfahren, ist der jüngste Zugang in La Maca, einem vom Dschungel fast umschlungenen Gefängnis in Abidjan, der ehemaligen Hauptstadt von Côte d’Ivoire. Hier spielt sich die Handlung von «Night of the Kings» ab – oder eben auch nicht, denn es geht in diesem Film um Geschichte und Geschichten. Und es geht um die Bedeutung von Geschichten für die Konstituierung einer Gemeinschaft, sei das die Bevölkerung eines Landes oder bloss eines Gefängnisses. Das klingt allegorisch und ist es auch – aber auf eine Weise, die mit dem klassisch-westlichen literaturhistorischen Verständnis des Begriffes wenig zu tun hat, wenn man nicht ins Dionysostheater der griechischen Antike zurückgehen will, in dem Aischylos, Sophokles und Euripides die Werte und Tücken der Polis verhandelten.

Wie bei Shakespeare

Der westafrikanische Griot ist dabei nur eine Erzähl(er)figur, auf die Philippe Lacôte in seiner berauschend dichten Filmerzählung zurückgreift. Die andere ist jene der Scheherazade aus «1001 Nacht». Denn die Rituale im quasi von den Gefangenen selbst verwalteten La Maca wollen es so, dass auch «Roman» sterben soll, sobald er mit seiner Geschichte ans Ende gekommen ist. Ein Blutopfer soll er sein, durch das das Ende der Regentschaft von Barbe Noire (Steve Tientcheu), dem todkranken inoffiziellen Boss der Gefangenen, besiegelt wird. Das Gesetz der Gemeinschaft besagt, dass dieser sich noch in der Blutmondnacht, während der die Handlung des Filmes spielt, im überfluteten Gefängniskeller selber ertränken muss. Wie bei Shakespeare lauern im Schatten bereits zwei Fraktionen auf die Ergreifung der Macht – einer Macht, die an diesem Ort am wenigsten bei den Aufsehern liegt, die bewaffnet und nervös auf das nächtliche Treiben blicken.

Die erste Geschichte, mit der «Roman» nach seiner Ankunft zu Beginn des Films bei Barbe Noire vorstellig werden muss und mit der er sich unwissentlich für seine Rolle bewirbt, ist ein Traum. Genau nach einer Traumlogik funktioniert auch seine Erzählung um den Bandenanführer Zama King – insbesondere nachdem ihn der einzige weisse Insasse namens Silence (Denis Lavant) über die Bedeutung des Fleischerhakens an der Decke des Schlafsaals aufgeklärt hat. Fortan schlägt «Romans» Erzählung (und mit ihr auch der Film) wilde Bögen, kehrt zurück in ein vorkoloniales, von Königinnen und Königen regiertes und umkämpftes Afrika, erzählt fantastisch überhöht von innerfamiliären Kriegen um das Land, um dann unvermittelt in der jüngeren Gegenwart von Côte d’Ivoire zu landen, als ein Bürgerkrieg das Land regelrecht in zwei Teile zerriss. An diesem Punkt beginnt auch im Gefängnis das Blut zu fliessen.

Licht in der Finsternis

«Night of the Kings» ist weit mehr als ein faszinierendes Vexierspiel über die sozialen und allegorischen Aspekte des Geschichtenerzählens beziehungsweise des Erzählens von Geschichte. Die kleinste Rolle spielt dabei die objektive Wahrheit. Es geht um Macht, um die Verteilung von Rollen – und um die Fiktionen, die in beidem wirksam sind. Jede Regel – und das gilt nicht nur für den spezifischen Kontext dieses Gefängnisses – ist an eine Geschichte gebunden, die sich die Gemeinschaft immer wieder von neuem erzählen muss. Vor allem aber gelingt es Lacôte, fern von westlicher Erzähltradition eine ganz eigene Welt zu entwerfen, die nichts gemein hat mit den leider immer noch geläufigen Bildern, die man sich hier von Afrika macht. Das Gefängnis ist im konkreten und übertragenen Sinne ein düsterer Raum, der jedoch von zahlreichen Lichtquellen (Kamera: Tobie Marier Robitaille) aufgehellt wird. Es ist ein Raum, den man nur durch das Erzählen von Geschichten verlassen kann, vermittelt alleine durch Rhetorik, Gesang und Körper.

«Wenn deine Welt aus goldenen Mauern besteht, jagst du keinen Träumen nach», sagt Barbe Noire einmal kryptisch. Am Ende scheint die Sonne wieder, und eine neue Geschichte kann beginnen.

Night of the Kings (La Nuit des rois). Regie und Drehbuch: Philippe Lacôte. Kanada/Frankreich/Senegal 2020