Kino: Ein Wirbel aus Feuer und Wasser
Schwarzweiss war die Farbe seiner Kindheit: C. J. «Fiery» Obasi betrachtet das Kino als koloniale Technik, die man sich auch für andere Zwecke aneignen könne. In «Mami Wata» gelingt das dem nigerianischen Filmemacher in traumartigen Bildern.
Seinen Namen erhielt C. J. «Fiery» Obasi mit etwa vierzehn Jahren im Traum: «Ich erinnere mich, dass ich einen Berg hochkletterte, dessen Gipfel von einer lila Wolke bedeckt war. Da ich aus einer religiösen Familie komme, war die biblische Bildsprache immer Teil meiner Imagination, und ich fühlte mich ein wenig wie Moses.» Als er da also hochkletterte, zeigte auf einmal eine Hand aus der Wolke heraus auf ihn, und eine Stimme sprach: «You are Fiery.» Das Wort gehörte damals noch nicht zu seinem aktiven Wortschatz, also habe er es nach dem Aufwachen gleich nachgeschlagen. «Als ich es dann fand – ‹feurig› –, dachte ich: Ja, das bin tatsächlich ich, so nenne ich mich jetzt.»
Der Feurige wurde in Owerri, Nigeria, geboren und wuchs mit Stephen-King-Büchern und dem Genrekino der siebziger und achtziger Jahre auf. Die nigerianische Filmszene, die später unter dem Namen Nollywood für Furore sorgen sollte, gab es damals noch nicht und auch kein Kino im Dorf.
Also sah Fiery alles – Hollywoodklassiker, britische Horrorfilme, chinesisches Martial-Arts-Kino – bei sich zu Hause auf einem kleinen Schwarzweissfernseher. All seine frühen Filmerinnerungen seien in Schwarzweiss, sagt er bei einem Treffen im aargauischen Ennetbaden, am Sitz seines Schweizer Verleihers. Und auch wenn ihm das erst später bewusst wurde, wollte er mit seinem Film «Mami Wata» auch dieses frühe Gefühl des Staunens wiedereinfangen: «Ich erinnere mich, wie ich in der Schule sass und nur daran dachte, wieder nach Hause in diese schwarzweisse Traumwelt zurückzukehren.»
Ganz und gar nicht biblisch
«Mami Wata» ist sein dritter Film nach zwei Genrewerken mit kleinstem Budget. Die Bildsprache ist schwarzweiss, traumartig – und dezidiert nicht von biblischen Motiven bestimmt, sondern vom Rhythmus des Wassers und dem grösstenteils vormodernen Dorfleben. Das kontrastreiche Schwarzweiss lässt die maskenartig bemalten Gesichter der Figuren wie leuchtendes Make-up an einer Party wirken – eine Assoziation, die laut Obasi nicht zufällig ist.
Mit seiner Kamerafrau, der Brasilianerin Lílis Soares, habe er nach Möglichkeiten gesucht, die Welt des Films greifbarer und spezifischer zu gestalten und auch das ewige Problem des fehlenden Kontrasts zwischen Schwarzer Haut und der Nacht auf originelle Art zu lösen. Dabei hätten sie plötzlich an Partygänger:innen gedacht, die ihre Gesichter mit leuchtenden Neonfarben schmücken: «Es war wie eine kleine Erleuchtung. Gesichtsbemalungen als sehr traditionelles, greifbares Element werden hier mit etwas Modernem wie der zeitgenössischen Partykultur angereichert – die natürlich wiederum von der Tradition inspiriert ist.»
Je spezifischer, desto universeller
Es ist ein Thema, das sich durch den ganzen Film zieht. Die Geschichte ist in einem fiktiven westafrikanischen Küstendorf angesiedelt und handelt vom Konflikt zwischen der Tradition – verkörpert von der Wassergöttin Mami Wata – und der Moderne, die Eingang ins beschauliche Dorf sucht, in Form von Medizin, Demokratie und später auch Maschinengewehren. Die Heilerin Mama Efe (Rita Edochie) zieht ihre Macht aus ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen Dorfbevölkerung und Schutzpatronin, vermag es aber immer weniger, mit den Errungenschaften der Moderne mitzuhalten. Als das zum Tod eines Kindes führt, nährt dies die Zweifel am Machtanspruch der Matriarchin – bis hin zum gewaltsamen Umsturz. Dabei wird dieser Konflikt nicht etwa als historisch-naturalistisches Drama mit etwas Symbolik erzählt, sondern von Anfang bis Ende als Mythos.
Er sei schon immer überzeugt gewesen, sagt Obasi, dass die Volkserzählungen eigentlich Genrefilme seien: «Sie folgen genau denselben Mustern und sind ausserdem von Generation zu Generation mündlich überliefert. Sie enthalten alles, was Kino zu Kino macht.» Die orale Tradition lasse sich deshalb sehr organisch in Kino übersetzen, sagt Obasi.
Könnte dies nicht auch daran liegen, dass mündlich überlieferte Mythologie wie auch das Kino ein möglichst grosses Publikum anstreben und deshalb so universal und allgemein verständlich wie möglich konstruiert werden? Obasi jedenfalls bestätigt, er habe mit «Mami Wata» auch die Absicht verfolgt, dass der Film überall verstanden werde. Erreichen wollte er dies allerdings, indem er so spezifisch wurde, wie es nur möglich war: «Ich weiss, dass das paradox klingt, aber je spezifischer ich mich auf die westafrikanische Folklore konzentrierte, desto besser liessen sich auch diese universellen Themen vermitteln.» Mit der Figur der Mami Wata verhalte es sich ähnlich: Das Grossartige an ihr sei, dass alle Kulturen glaubten, dass sie aus der eigenen Tradition komme. «Und alle, wirklich alle, ob in Nigeria, in Côte d’Ivoire, im Globalen Norden, haben ihr gegenüber ihre eigenen Gefühle – in denen sich dann auch das eigene Verhältnis zu Tradition und Moderne spiegelt.»
Natürlich gehe es ihm dabei nicht um einfache Behauptungen wie etwa, dass die Moderne gut und die Tradition schlecht sei oder umgekehrt. «Ich versuche, eine Perspektive zu finden, in der die beiden Welten zusammengeführt werden können.» Ob das nicht eine der Hauptaufgaben der Kunst sei? Obasi lacht. «Es sollte so sein, ja. Aber aus irgendeinem Grund ist es das nicht.» Und sowieso gebe es ja noch die ganzen ungelösten Probleme, die in einer Gesellschaft erst verhandelt werden müssten. Etwa, wer die Macht hat.
Alles kreist
Als die Gemeinschaft im Dorf langsam mit der Aussenwelt in Berührung kommt und die Möglichkeiten der modernen Medizin die spirituell inspirierte Heilkunst konkurrenzieren, geraten die Machtverhältnisse ins Wanken. Zwei Schwestern, mögliche Nachfolgerinnen von Mama Efe, stehen dann plötzlich einem Herausforderer von aussen gegenüber, der Schulen und Spitäler verspricht. Stattdessen kommen dann weisse Waffenhändler, die den neuen Machthaber auf Kosten der Gemeinschaft aufrüsten. Es ist nicht das einzige Mal, dass die märchenhafte Erzählweise plötzlich von beissender politischer Satire ins Wirbeln gebracht wird.
Der Wirbel, mit einer unsichtbaren Wassergottheit im Zentrum, ist nicht das schlechteste Bild dafür, wie es Obasi in «Mami Wata» gelingt, die zahlreichen Kontraste und Paradoxien auf fruchtbare Weise zueinander in Beziehung zu setzen. Moderne und Tradition, das Männliche und das Weibliche, Gemeinschaft und Gewalt, Realität und Traum: Alles bedingt und umkreist sich gegenseitig, ohne dass sich je ein:e klare:r Gewinner:in ausmachen liesse. Die Macht von Mama Efe geht auf eine mystische Tradition zurück, mit «realen» Kriterien ist sie nicht zu rechtfertigen. So wie auch Obasi es nicht gelten lässt, dass alle Probleme, mit denen der afrikanische Kontinent heute zu kämpfen hat, auf den Kolonialismus zurückzuführen sind: «Natürlich hat dieser ein gewisses Fundament gelegt, aber die Frage ist doch, was wir jetzt aus diesem machen.»
Mama Efe lehnt im Film jegliche modernen Einflüsse unter anderem deswegen ab, weil diese mit dem Kolonialismus kamen. Doch diese Techniken seien nicht alle automatisch schlecht, sagt Obasi. «So vermag etwa das Kino, seinen Status als ‹koloniale Technologie› zu transzendieren, indem wir es uns aneignen und es unserer Art, zu erzählen, anpassen. Am Ende geht es um nichts anderes als um Perspektive und um die Art, wie wir uns selber sehen und darstellen.»
«Mami Wata». Regie und Drehbuch: C. J. «Fiery» Obasi. Nigeria 2023. Jetzt im Kino.