Serie: «Ich bin ganz vermattet»

Nr. 36 –

Auf den ersten Blick entspricht Rabbi Shulem Shtisel ganz dem Bild des Patriarchen, wie man ihn sich als Oberhaupt einer orthodoxen Familie vorstellt: Gestreng, prinzipientreu und nichtsdestotrotz wohlwollend hält er seine Hand über Kinder und Enkelkinder wie auch über die Buben in seiner religiösen Grundschule in Jerusalem. Der jüngste Sohn Akiva muss endlich verheiratet und Tochter Giti mit ihren fünf Kindern und einem Mann, der (offiziell) für ein halbes Jahr in einem koscheren Schlachtbetrieb in Argentinien arbeitet, über die Runden gebracht werden. Angst und Scham vor einem Nichtgenügen in religiösen Pflichten scheinen allgegenwärtig. Zumal sich Akiva, statt in die arrangierte Heirat einzuwilligen, in eine zweifache Witwe verliebt, während Giti heimlich verschiedenen Jobs nachgeht, stets darauf bedacht zu verschleiern, dass sich ihr Mann nach Argentinien abgesetzt hat. Und dann ist da auch noch Malka, die Grossmutter im Altersheim, die einen Fernseher ins Zimmer gestellt bekommt und die Freuden ganz weltlichen Binge-Watchings entdeckt. Oder Gitis aufmüpfige Tochter Ruchami, die ihren Vater, als er reuig anruft, einen «Nazi» schimpft und Plakate mit seinem Namen und Konterfei drucken lässt, die ihn als «Verbrecher» anprangern.

«Ich bin ganz vermattet», sagt Malka einmal in schönstem Jiddisch. Es ist nicht leicht, im 21.  Jahrhundert ein Leben nach streng orthodoxen Regeln zu führen, das zeigt die israelische Serie «Shtisel» höchst einfühlsam. Der Grundton ist melancholisch, die Zwischentöne sind voller Humor und die Figuren so liebenswürdig gezeichnet, dass man schon bald das Gefühl hat, in dieser für Aussenstehende normalerweise so fremden Welt bei Shulem und Akiva am Küchentisch mit dem geblümten Wachstischtuch zu sitzen. Zu vertraut sind uns die familialen Konflikte und inneren Kämpfe der Figuren. Mit seinen zutiefst menschlichen Erzählungen aus dem orthodoxen Alltagsleben schafft «Shtisel», wovon offizielle Politik und Diplomatie nur träumen können: Die Serie stösst in Israel über alle politischen und religiösen Lager hinweg auf Begeisterung.  

«Shtisel». Drehbuch/Regie: Ori Elon und Yehonatan Indursky. Israel 2013–2021. Auf Netflix.