«Wadjda» und «Fill the Void»: Fenster in spezielle Universen

Nr. 12 –

Geschlossene religiöse Gesellschaften aus der Sicht junger Frauen: Davon erzählen zwei Filme aus Saudi-Arabien und Israel, die im internationalen Wettbewerb am Filmfestival in Fribourg und demnächst im Kino zu sehen sind.

Ein Alltag voller Rituale und Gebete: Hadas Yaron (Mitte) als Shira in Rama Burshteins «Fill the Void».

Mädchenfüsse. Das zeigt die erste Einstellung von Haifa al-Mansurs Film «Wadjda». Aneinandergereihte Füsse in hübschen Sandalen. Dazu sind Mädchenstimmen zu hören, die ein Gebetslied üben. Nur ein Fusspaar tanzt aus der Reihe: Wadjdas Füsse stecken in schwarz-weissen Converse-Turnschuhen. Sofort wird klar: Dieses Mädchen ist anders.

Wadjda ist die Protagonistin des ersten Langspielfilms der 38-jährigen al-Mansur – des ersten Kinofilms überhaupt, der je im streng islamischen Saudi-Arabien entstanden ist. Die temperamentvolle Elfjährige verfolgt zum Leidwesen der Schulleiterin stur ihre Ideen und lässt sich nicht von ihren Zielen abbringen. Sie mag sich nicht völlig verschleiern, langweilt sich beim Beten – und auf keinen Fall möchte sie bald verheiratet werden.

Alles, was sie will, ist ein Velo. Doch während die Jungs auf ihren Rädern durch die Strassen kurven, gehört sich Radfahren in Saudi-Arabien für Mädchen nicht. Sie könne keine Kinder bekommen, wenn sie Fahrrad fahre, sagt Wadjdas Mutter. Das Mädchen lässt sich jedoch nicht entmutigen und versucht, das Geld für ein Velo selbst aufzutreiben.

Drehen trotz Religionspolizei

Al-Mansurs Film ist eine kleine Sensation: Als erste Frau hat sie es geschafft, einen Film zu drehen in einem Land, in dem Film- und Musikvorführungen nur unter allerstrengsten Auflagen bewilligt werden. In einem Land, in dem Frauen ohne Bewilligung ihrer Männer weder reisen noch arbeiten dürfen; wo ihnen das Autofahren verboten ist, sie nur mit schwarzer Ganzkörperbedeckung auf die Strasse gehen dürfen – und ihnen nicht einmal laut zu lachen gestattet ist.

Die Dreharbeiten waren entsprechend schwierig. Mehrmals wurden sie von der Religionspolizei abgebrochen, und al-Mansur musste sich einige Male in den Produktionsbus zurückziehen – manchmal verfolgte sie die Dreharbeiten von dort aus auf einem Monitor und gab über ein Walkie-Talkie Anweisungen. Doch der Aufwand hat sich gelohnt: «Wadjda» ist ein starker Erstlingsfilm mit grossartigen Schauspielerinnen (Waad Muhammad als Wadjda und die bekannteste saudische Schauspielerin Reem Abdullah als ihre Mutter), der Einblick in den saudischen Familienalltag gibt, in eine Welt, die Aussenstehenden sonst verschlossen bleibt.

Strenge Geschlechtertrennung

Auch «Fill the Void», der erste Spielfilm von Rama Burshtein, gewährt Einblick in eine geschlossene Gesellschaft. Die 45-jährige Regisseurin erzählt von einer jüdisch-orthodoxen Familie in Tel Aviv. Die Handlung beginnt damit, dass Esther bei der Geburt ihres Kindes stirbt. Ihr Ehemann Yochay plant kurze Zeit später, eine Frau zu heiraten, die in Belgien lebt. Als Esthers Mutter davon erfährt, gerät sie in Panik: Die Trennung von ihrem Enkel würde ihr das Herz brechen. Um dies zu verhindern, schlägt sie Yochay vor, ihre jüngere Tochter Shira zu heiraten. Dies bringt sowohl Shira wie Yochay in einen Konflikt.

Burshtein, selbst ultraorthodoxe Jüdin, erzählt die Familientragödie in wunderschönen, streng durchkomponierten Bildern, die weich ausgeleuchtet sind. Jede Einstellung wirkt wie ein Gemälde. Wie «Wadjda» wird auch «Fill the Void» aus der Perspektive einer jungen Frau erzählt: Im Zentrum steht die zurückhaltende, aber starke Shira, grossartig dargestellt von Hadas Yaron, die für ihre Rolle an den Filmfestspielen in Venedig als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde.

Beide Filme handeln von geschlossenen Gesellschaften, in denen der Alltag von Ritualen und Gebeten bestimmt wird und das Leben der Frauen und Männer in Parallelwelten stattfindet. Und doch ist der jeweilige filmische Umgang der Regisseurinnen mit diesen geschlossenen Universen ein ganz anderer. Burshtein zeigt die jüdisch-orthodoxe Welt als in sich geschlossenes System. Es gibt in «Fill the Void» nur den jüdisch-orthodoxen Alltag. Das nicht religiöse Leben, das in Tel Avivs Strassen pulsiert, kommt nicht vor. Der Film spielt fast nur innerhalb der vier Wände der Familie – Alternativen zu ihrer Lebensform gibt es keine, es strebt auch niemand danach. So ist es nur folgerichtig, dass sich Shira dem Druck der Eltern beugt und sich «freiwillig» für Yochay entscheidet. In «Fill the Void» gehe es nicht um den religiös-säkularen Dialog, sagt Burshtein – dieser Dialog interessiere sie nicht: «Mein Film öffnet ein Fenster, erzählt eine kleine Geschichte aus einem speziellen und komplexen Universum.»

Das Doppelleben der Frauen

Ganz anders der Zugang von Haifa al-Mansur. Humorvoll zeigt sie in «Wadjda», wie die Frauen in Saudi-Arabien ein Doppelleben führen: jenes ausserhalb ihrer vier Wände, wo sie sich nur verschleiert und ohne Rechte kaum frei bewegen können – und jenes innerhalb ihrer vier Wände. Hier trägt Wadjdas Mutter die schönsten Kleider, tratscht am Telefon mit Freundinnen und singt beim Kochen fröhliche Lieder. Wadjda hört laut Rockmusik ab Kassette, knüpft Fussballfanbänder, mit deren Verkauf sie Geld für ihr Velo verdient, und spielt mit ihrem Vater Computerspiele am riesigen Fernsehbildschirm.

Sie hoffe, der Film ermögliche einen Einblick in ihr Land und spreche universelle Themen an, die Menschen aus aller Welt betreffen, sagt al-Mansur, die Saudi-Arabien vor Jahren verlassen hat. Nach mehreren Jahren in den USA lebt sie heute in Bahrain. Sie ist eine Weggezogene im Unterschied zu Burshtein, die eine Zugezogene ist: Die in New York geborene Regisseurin machte die Filmausbildung in Jerusalem, wo sie strenggläubige orthodoxe Jüdin wurde. Sie sieht sich als eine Art «kulturelle Stimme» ihrer Gemeinde. Ihre Arbeit geniesst denn auch die Unterstützung der von ihr porträtierten Gesellschaft – anders als al-Mansurs Werk, das in Saudi-Arabien, zumindest in absehbarer Zukunft, wohl nicht zu sehen sein wird.

Die grosse Stärke beider Filme ist der Innenblick, den die Regisseurinnen auf die von ihnen porträtierte Gesellschaft richten. Unaufgeregt und mit grösster Normalität zeigen sie Umstände und Situationen, die schnell exotisch wirken, wenn sie eine Aussenstehende wiedergeben würde. Auch verzichten beide darauf, zu (ver)urteilen. So sind die Frauen nicht einfach nur Opfer einer patriarchalen religiösen Gesellschaft, sondern auch selbstbewusste Frauen, die tragende Entscheidungen fällen. Und sie sind Frauen, die lieben und geliebt werden, wenn auch nicht immer auf die Art, wie sie es sich wünschen. Im Grunde sind «Wadjda» und «Fill the Void» tragisch-schöne Liebesgeschichten – und eine Liebeserklärung an die Menschen in ihrem (verlassenen oder auserwählten) Zuhause.

«Fill the Void». Israel 2012. Regie: Rama Burshtein. Ab 21. März in den Kinos.

«Wadjda». Saudi-Arabien/Deutschland 2012.
Regie: Haifa al-Mansur. In: Fribourg, Kino Rex 1, Donnerstag, 21. März, 12.30 Uhr; Capciné 1, Freitag, 22. März, 17.15 Uhr, in Anwesenheit der Regisseurin. Ab 11. April in den Kinos.

Fill the Void. Regie: Rama Burshtein. Israel 2012. Ab 21. März 2013 in den Kinos

Wadjda. Regie: Haifaa al-Mansour. Saudi-Arabien/Deutschland 2012. Fribourg, Kino Rex 1, Donnerstag, 21. März 2013, 12.30 Uhr; Capciné 1, Freitag, 22. März 2013, 17.15 Uhr, in Anwesenheit der Regisseurin. Ab 11. April 2013 in den Kinos

Dann halt auf YouTube

Seit vierzig Jahren gibt es in Saudi-Arabien keine öffentlichen Kinos mehr. Nur eine Handvoll Filme wurde in den letzten Jahren öffentlich vorgeführt, etwa an internationalen Filmfestivals. Die Videoindustrie ist strikt reglementiert; Frauen dürfen Filme nicht ausleihen. Prinz Walid Bin Talal, ein Neffe des Königs, der auch in moderne Kommunikationstechnologien investiert, hat zwar vor Jahren einen Film produziert, was aber in fundamentalistischen Kreisen Proteste hervorrief.

Dafür gibt es mittlerweile zwölf Millionen BenutzerInnen des Internets und neunzig Millionen tägliche Besuche auf YouTube. Vorallem jüngere FilmemacherInnen benutzen das Medium gezielt. So hat Muhammad Makki eine Miniserie mit dem Namen «Takki» gedreht, die beinahe eine Million ZuschauerInnen pro Episode erreicht. Sie handelt, selbstbezüglich, von einem Filmteam, das versucht, in einer Provinzstadt einen politischen Film zu drehen – gegen viele alltägliche Hindernisse.