Pop: Die Schönheit im Drastischen

Nr. 38 –

Früher spielten sie Rockmusik, doch die haben Low jetzt definitiv hinter sich gelassen: Auf dem neuen Album «Hey What» flimmern ihre überwältigenden Soundscapes abstrakter denn je.

Um das Publikum zu ärgern, spielten sie früher möglichst langsam und fragil: Mimi Parker und Alan Sparhawk sind Low. Foto: Nathan Keay

Es knallt nicht einmal, als die vermeintlichen Gewissheiten implodieren, auf denen dieses kolossale Album fusst. «Hey» heisst das Stück in der Mitte des Albums, über fünf Minuten zerfliesst es in einem mächtigen Drone wie aus einer Science-Fiction-Orgel und in den Echos entrückter Rufe, die sich diesem anverwandeln. Es ist keine saubere Synthese, kein erlösender Übertritt – die drastischen Gegensätze geben einander einfach nach: die Harmoniegesänge auf der einen Seite, die so freimütig auf emotionale Resonanz zielen, dass ihre Melodien sofort im Kopf hängen bleiben; der überwältigende verzerrte Sound auf der anderen, der sich stets zugänglicher anfühlt, als er klingt. Es ist das Faszinosum dieser Musik, wie sie so unmittelbar einleuchtend, aber gleichzeitig so unvertraut wirkt.

Und ja, als wäre «Hey What», das neue Album von Low, nicht schon eines der formal kühnsten einer Band, die einst Rockmusik gespielt hat, ist es auch noch von einem subtilen Witz durchzogen. Nach «Double Negative», ihrem herausragenden Werk von 2018, in dessen uneindeutiger Düsternis manche Kritik das Chaos der Trump-Welt hören wollte, suggeriert ein Titel wie «Hey What» ja erst mal optimistische Wiederherstellung. Und so klingen die nun plötzlich kristallklar nach vorne drängenden, fast hymnischen Gesänge von Alan Sparhawk und Mimi Parker zunächst tatsächlich. Doch ihre formalen Spielchen sind zu verzwickt, als dass man sie auf eine Behauptung festlegen könnte. Dazu gehört auch der augenfällige Gegensatz zwischen Stimmen und Sound, den Low über die erste Hälfte des Albums schrittweise loslassen und in «Hey» schliesslich ganz. Und dass sie diesen gleich anschliessend, in «Days Like These», so unverblümt wieder inszenieren, dass man nur lachen kann.

Maximal digital

Die hypnotischen Vokalharmonien auf «Hey What» könnten an Folk erinnern, die rhythmischen Figuren, zu denen die dichten Sounds sich oft bündeln, etwas entfernter an Noise Rock. Aber obwohl es überhaupt nie kompliziert klingt, was Low auf diesem Album machen, ist es auch viel abstrakter, als solche Vergleiche nahelegen. Schon ein Bandgefüge gibt es hier nicht – da und dort drücken noch Anschläge von Sparhawks Gitarre durch, das Schlagzeug von Parker hingegen ist, abgesehen vom letzten Song, wo erstmals so etwas wie ein Backbeat erklingt, in seinen digitalen Verwandlungen aufgelöst. Es sind nicht mehr die Kräfte des Zusammenspiels, die diese Musik antreiben, sondern diejenigen der zeitgenössischen Popproduktion: Modulation, Kompression, Pitch-Shifting, Vervielfältigung.

Mehr als mit der Klangästhetik des Indie-Rock, die Low in den neunziger Jahren mitgeprägt haben, hat diese Kunst des digital befreiten Überbordens mit den ausgefransten Bässen auf Kanye Wests «Yeezus» zu tun. Oder mit dem subversiven Maximalismus der Hyperpop-Bewegung, wo kommerzielle Sounds durch Überzeichnung und Montage in den blanken Horror getrieben werden. Sogar an die experimentelle Metalband The Body könnte man hier denken, die auf ihrem Album «I’ve Seen All I Need to See» (2021) einen verzerrten Sound auftürmen, der so laut ist, dass er an den Grenzen der Aufnahmegeräte zerbricht.

Sie nannten es Slowcore

Jedenfalls ist es ein weiter Weg, den Low seit 1993 zurückgelegt haben. Alan Sparhawk und Mimi Parker, die schon vor der Bandgründung verheiratet waren und bei Low bis vor kurzem von verschiedenen Bassisten begleitet wurden, haben von Anfang an dorthin geblickt, wo ein neuer Sound entstand. Damals, als der Alternative Rock seine aggressiven Gitarren im Mainstream ausbreitete, spielten Low möglichst langsam und fragil, zunächst um das Publikum zu ärgern. Trotzdem kam das bald gut an, und jemand versuchte, ihre Musik auf eine flache Formel zu bringen: Slowcore. Doch es gehört auch zum Charme dieser Band, dass sie manchmal mit dem Glauben provoziert, man habe den Witz schon verstanden.

Am wenigsten klar war der Witz bei Low wohl auf «Double Negative», dem zweiten von bisher drei Alben, für die die Band mit dem Produzenten BJ Burton zusammenarbeitete. Drumcomputer oder sanft modulierte Stimmen nutzten sie schon davor, doch auf diesem Umbruchswerk nun nahmen plötzlich dunkel flimmernde Soundscapes überhand, Beats wurden elektronisch angedeutet oder fehlten ganz. Auch die Gesänge wurden gestört und verfremdet. Das wilde Spiel, das BJ Burton mit den zarten Stimmen von Sparhawk und Parker trieb, erinnert auch an ein anderes Schlüsselwerk des Gegenwartspop, an dem der Produzent mitgewirkt hat: Bon Ivers «22, a Million» von 2016. Darauf ging es um die Verletzlichkeit technologischer Netzwerke und die intimen Momente, die an ihren Bruchstellen entstehen können.

Gar nicht flaumig

Auch auf «Hey What» geht es um Technologie, darauf verweist etwa das Video zum Song «White Horses», wo monochrome Bilder organischer Strukturen von flirrenden Pixeln zerstäubt werden. Der Anfang des Songs und des Albums ist einer der wenigen Momente, wo ein analoges Instrument zu hören ist. Der Klang der Slidegitarre wird hier so ruckartig gedehnt, als wollte der Effekt die limitierten Möglichkeiten eines Instruments blossstellen, das immerhin auf die Dehnung von Tönen spezialisiert ist. Man kann dieses halbminütige Intro als eine Art Präambel zum Album hören: als Bekenntnis zur Vervielfältigung der Dimensionen analoger Sounds. In der Folge gibt, wie über weite Strecken des Albums, ein elektronischer Puls den Takt an, der Oszillator tritt an die Stelle des Schlagzeugs.

Doch wo Bon Iver das flaumige Temperament des Folk mit den neusten Apparaten und digitalen Tricks rekonstruieren, indem sie die neu gewonnenen Sounds in impressionistische Texturen einflechten, ist der Ansatz von Low ungleich drastischer, erst recht jetzt auf «Hey What». Schon bei «Double Negative» wurden sie dafür gefeiert, wie sie es schafften, nach 25 Jahren einen völlig neuen Sound zu entwickeln und dabei trotzdem unverkennbar zu klingen. Ebenso beachtlich ist nun, wie sie die radikalen Prämissen dieses Sounds beibehalten und darauf aufbauend zu neuer Schönheit finden. Wie in «Don’t Walk Away», der wohl herzzerreissendsten Liebesballade, die Low je gesungen haben. «Ich habe neben dir geschlafen für eine Zeit, die wie tausend Jahre wirkt», singen die beiden, und die Musik dazu ist so sanft, dass gut hörbar ist, wie der Effekt behutsam ihre Stimmen bricht.

Also auch hier, am einhelligsten Punkt, bleibt ein uneindeutiges Schimmern. In einer geradezu sinnfälligen Zeile von «Days Like These» heisst es sogar: «Es gibt nicht zwei Dinge, zwischen denen du wählen kannst.» Und in der Mitte der Zeile bricht ein Riff über den kristallklaren A-cappella-Gesang herein, das so aufbrausend kratzt, dass es nicht nur die Stimmen wegdrückt, man möchte auch kurz aufblicken, ob die Lautsprecher schon gerissen sind.

Low: Hey What. Sub Pop / Irascible. 2021