Medienvielfalt: «Wir sind kein Anti-Tamedia-Projekt»
In Bern ist ein Crowdfunding für ein neues Onlinemedium gestartet: Die «Hauptstadt» will der schwindenden Medienvielfalt mit unabhängigem Journalismus entgegenwirken.
Nein, ein Zufall ist der Zeitpunkt nicht: Der Startschuss zum Crowdfunding des neuen Berner Onlinemediums «Hauptstadt» findet am selben Dienstagmorgen statt, an dem die Lokalredaktionen der Berner Tamedia-Zeitungen «Bund» und «Berner Zeitung» zusammengelegt werden. Die beiden Zeitungen werden nun endgültig aus einer einzigen Grossredaktion mit Texten beliefert. Während also auf der einen Seite der Abbau der Medienvielfalt munter weitergetrieben wird, wird auf der anderen Seite genauso munter der Versuch gestartet, die Vielfalt zu erhalten.
Klickzahlen nicht im Vordergrund
Die vorübergehende Dependance der «Hauptstädter:innen» ist nicht zu übersehen: Ein Transparent mit einem grossen H darauf, designt vom renommierten Berner Grafikbüro Destruct, prangt an der Aussenwand eines Restaurants in der Berner Altstadt. Drinnen empfangen die Medienmacher:innen zur Pressekonferenz und schenken Kaffee aus. Flyer, Kleber und Bierdeckel mit dem Logo liegen auf, Pullover und Stofftaschen sind auch schon produziert. Hier haben die Hauptstädter:innen für den Crowdfunding-Monat bis Mitte November ihr Büro; es finden Veranstaltungen und offene Redaktionssitzungen statt.
Hinter dem Projekt steht eine Gruppe von rund fünfzehn Leuten, die seit einem Jahr unter dem Arbeitstitel «Neuer Berner Journalismus» an einem Konzept für ein neues, unabhängiges Berner Onlinemedium arbeitet (siehe WOZ Nr. 11/2021 ). Letzte Woche wurde der Name «Hauptstadt» bekannt gegeben. Mit Marina Bolzli und Jürg Steiner sind zwei renommierte ehemalige BZ-Journalist:innen im Organisationskomitee, dem auch Joël Widmer angehört, langjähriger Journalist und ehemaliger stellvertretender Chefredaktor des «Zofinger Tagblatts».
Als Anti-Tamedia-Projekt sieht sich die «Hauptstadt» nicht. «Ich habe keinen Grund, eine Anti-Tamedia-Kampagne zu fahren, auch keine Anti-Supino-Kampagne», stellt Steiner an der Pressekonferenz klar. Ausserdem sei dazu die bisher geplante Redaktion viel zu klein, und Bolzli ergänzt: «Wir sind ein eigenes Projekt, und wir haben unsere eigene Berechtigung.» Ziel ist ein professionelles, werbefreies und leserfinanziertes Onlinemagazin, das unabhängigen Journalismus aus und für die Stadt Bern (und Umgebung) bietet. Dabei stehen nicht die Klickzahlen im Vordergrund, sondern das journalistische Herzblut und Handwerk. Die Texte werden hinter eine «Soft Paywall» gestellt, ein Jahresabo kostet 120 Franken.
Wenn alles nach Plan läuft, wird im Frühling mit fünf Vollzeitstellen gestartet. Mit einer Anschubfinanzierung von einer Million Franken könnte das Projekt drei Jahre überleben. Rund eine halbe Million sei bereits in Aussicht gestellt, so Widmer. Unter anderem hat die Stiftung für Medienvielfalt aus Basel Geld gesprochen; mit anderen Stiftungen sowie mit der Burgergemeinde sei man im Gespräch. Allerdings gibt es diese Anschubfinanzierung nur, wenn beim Crowdfunding mindestens tausend Abos gelöst werden. Falls das neue Mediengesetz kommt, ist zudem mit Fördergeldern zu rechnen.
Werbefilme mit Prominenz
Dass die Hauptstädter:innen in Bern breit vernetzt sind, haben sie bereits mit ihrer Kampagne zum Crowdfunding bewiesen. In Kurzfilmen werben namhafte Berner:innen aus Politik, Kultur, Sport, Gastronomie und Wirtschaft für das neue Portal. Auch über die Stadt hinaus haben sich die Hauptstädter:innen gut vernetzt und den Austausch mit anderen lokalen Onlinemedien wie «Bajour», «Tsüri» oder «Kult» gesucht, um deren Erfahrungen zu nutzen. Und natürlich beruft man sich auf die «Republik». Doch während das Zürcher Onlinemedium mit seinem Journalismus gleich die Rettung der Demokratie versprach, verzichten die Hauptstädter:innen auf grosse Töne. Nicht die Demokratie wolle man retten, steht auf der Website, «und schon gar nicht die Welt, aber immerhin die Medienvielfalt in Bern».
Die Zeichen stehen gut: Bei Redaktionsschluss dieser WOZ waren deutlich mehr als tausend Abos verkauft. Viele Berner:innen wünschen sich seit längerem eine Alternative zu den bestehenden Zeitungen. «Wir hoffen, dass einige, die ein Abo bei Tamedia einsparen, eines bei uns lösen», sagt Widmer gegen Ende der Pressekonferenz und lässt so doch noch ein wenig Anti-Tamedia-Wind aufkommen.