Diplomatischer Eklat: Viel Getöse für die türkische Volksseele

Nr. 43 –

Mit immer heftigeren Provokationen versucht Staatspräsident Erdogan von der desolaten Wirtschaftslage in der Türkei abzulenken. Der Autokrat wird zunehmend zur Hypothek fürs eigene Land.

Noch am Wochenende hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gedroht, zehn westliche Diplomat:innen zu «unerwünschten Personen» erklären zu lassen. Sie hatten sich in einem offenen Brief für die Freilassung des inhaftierten Philanthropen Osman Kavala eingesetzt. Aber bereits am Montagabend nahm der türkische Präsident wieder Abstand von seiner Idee. Die Botschafter:innen, darunter jene aus Deutschland, den USA, Frankreich und Kanada, hätten «einen Rückzieher gemacht», erklärte er und versuchte, sich als Sieger des Eklats darzustellen: «Die heutige Erklärung der Gesandten bedeutet einen Rückzug aus der Verleumdung.» Von einigen der betroffenen Botschaften war zuvor per Twitter verkündet worden, sie würden sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischen wollen.

Auf der grauen Liste

Da war er wieder: der Konflikt mit Aussenstehenden, den Erdogan braucht, um mit nationalistischem Getöse die Volksseele zu streicheln. Das Ausmass der jüngsten Konfrontation zeigt, wie sehr der innenpolitische Druck auf ihm lastet. Der Autokrat ist zum Risiko für sein eigenes Land geworden.

Vergangene Woche gab die globale Finanzaufsichtsbehörde Financial Action Task Force bekannt, dass sie die Türkei wegen mutmasslicher Terrorfinanzierung, Geldwäsche und institutioneller Korruption auf ihre «graue Liste» genommen habe und fortan stärker kontrollieren werde. Auf dieser grauen Liste finden sich Länder wieder, deren Bankensektor nicht über ausreichende Kontrollen verfügt, um etwa Korruption zu verhindern. Als dann die türkische Zentralbank erneut und überraschend ihren Leitzins senkte, fiel die Landeswährung Lira auf ein neues Rekordtief.

Die Regierung reagierte mit einer wüsten Beschimpfung der Opposition, und Innenminister Süleyman Soylu von Erdogans AKP behauptete, Europa stärke und finanziere «Terrorismus», unter dem die Türkei leide. «Angesichts der immer lauter werdenden antiwestlichen Töne» und eines «zunehmend unberechenbaren» Präsidenten ähnele die Türkei mittlerweile «mehr dem Iran als einem geschätzten Nato-Mitglied», schrieb die Journalistin Amberin Zaman im Onlinemagazin «Al-Monitor» – noch bevor Erdogan wenige Tage später den Botschaftseklat lostrat.

Erdogan macht einen verzweifelten Eindruck, offensichtlich weiss er nicht mehr weiter. Denn während die Wirtschaft abstürzt, die AKP-Regierung in Umfragen auf rund dreissig Prozent abrutscht und das Vertrauen in den Präsidenten sinkt, ist das türkische Militär in Konflikte in Libyen, Syrien, im Nordirak und indirekt im kaukasischen Bergkarabach verwickelt. Angesichts von steigender Inflation und zunehmender Arbeitslosigkeit schwindet das Verständnis für diese aussenpolitischen Abenteuer.

Währenddessen werden laufend weitere Regimekritiker:innen inhaftiert: Vergangene Woche waren es 45 Student:innen an der Istanbuler Bogazici-Universität, die kurzfristig festgenommen wurden, weil sie gegen den vom Präsidenten eingesetzten Rektor protestierten. Und weiterhin organisieren sich die kemalistische CHP und die nationalkonservative IYI-Partei, um Erdogan 2023 zu stürzen: Im selben Jahr, in dem das hundertjährige Bestehen der türkischen Republik gefeiert wird, finden nämlich Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt.

Verteidigen ist sinnlos

Osman Kavala, an dessen Person sich der diplomatische Eklat am Wochenende entzündet hat, liess durch seine Anwält:innen vor wenigen Tagen eine Erklärung veröffentlichen. Der Kulturmäzen, einer der prominentesten Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, befindet sich seit 2017 ohne Prozess in Haft. Er soll unter anderem an den regierungskritischen Gezi-Protesten 2013 beteiligt gewesen sein, zudem wird ihm Spionage vorgeworfen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte 2019 seine Freilassung gefordert. Geschehen ist bisher nichts, stattdessen gab es immer neue Vorwürfe gegen den Inhaftierten.

Osman Kavala werde an künftigen Anhörungen vor Gericht nicht mehr teilnehmen, hiess es nun in der Erklärung: Er erwarte keinen fairen Prozess mehr und erachte seine Verteidigung deswegen als sinnlos. Insbesondere Devlet Bahceli, der Chef von Erdogans rechtsextremer Koalitionspartnerin MHP, reagierte mit aggressiver Rhetorik. Wie es in Kavalas Fall weitergeht, hat auf jeden Fall staatspolitische Auswirkungen: Sofern die Türkei der Forderung des Europäischen Gerichtshofs nach einer Freilassung Kavalas nicht nachkommt, droht ihr der Ausschluss aus dem Europarat.