Von oben herab: Süsser die Treicheln nie klingen
Stefan Gärtner hört es bimmeln
«Achtung», warnt mich mein Redaktor, «die Treicheln sind keine Glocken, sie werden gehämmert, nicht gegossen.» Das ist schade, weil es den Schluss nicht zulässt, die sogenannten «Freiheitstrychler» hätten einen an der Glocke und müssten beizeiten einen (symbolisch) auf die Glocke kriegen, bis die Glocken läuten – «wir für euch», dieser Slogan bekäme dann plötzlich einen ganz neuen Sinn. Falls es nicht sowieso «wirr für euch» heissen muss.
Einen Berner Verkehrspolizisten haben sie während einer Anti-Massnahmen-Demo jetzt mit Treicheln auf der Schulter erwischt. Seine Erklärung: Er habe nur das Gewicht testen wollen. Das ist ein guter Grund, den sich z. B. deutsche Nazis merken könnten: «Herr Staatsschützer, mir war nur so heiss unter der rechten Achsel!» Ueli Maurer, der eigentlich immer dabei ist, wenns dumm wird, ist bereits in einem Freiheitstrychler-Dress auffällig geworden, aber eben bloss aus modischen Gründen. Wer Thor Steinar trägt oder weisse Schnürsenkel in den Springerstiefeln, tuts ja auch bloss, weil es so gut aussieht.
Maurer hätte natürlich auch einfach mit einem Buch von Hans-Ulrich Treichel auf die Strasse gehen können, was vermutlich, auch ohne dass Treichel sich massnahmenkritisch hervorgetan hat, noch sehr viel mehr Aufsehen erregt hätte: Ueli Maurer mit einem Buch! Hätte ihn in der SVP freilich völlig unmöglich gemacht. Der deutsche Massnahmenkritikus Jan Josef Liefers war ja neulich auf einer Intensivstation voller Covid-Opfer und klang hernach ganz kleinlaut, und wer schon vor Corona gefunden hat, Maurer gehöre zum Arzt, hat jetzt doppelt recht.
Ob Ueli den legendären Rocksänger Achim Treichel kennt? Dessen grösster Hit war Anfang der achtziger Jahre der Song «Der Spieler», was ja wiederum sehr gut passt, denn ist nicht das ganze Leben ein Spiel? Den einen erwischts und die anderen nicht, und wer das nicht checkt, ist ein Schaf. Zu befürchten ist, dass der Schriftsteller Jörg Fauser, der Treichel (man soll Witze nicht erklären, aber bitte: Reichel natürlich) damals den Text geschrieben hat, dieser Harte-Jungs-Kiste nicht ferngestanden hätte, aber Fauser ist ja bekanntlich in der Nacht nach seinem 43. Geburtstag auf der Münchner Autobahn herumgelatscht und von einem Lastauto überfahren worden. Bis heute weiss niemand, wie er da hingekommen ist und was er da verloren hatte, aber er war ein freier, zum Todeszeitpunkt sternhagelvoller Mann, und wenn ihm der Staat verbot, zu Fuss eine Autobahn zu überqueren, dann war das wohl ein Grund mehr.
Wikipedia weiss, der Schriftsteller Michael Köhlmeier habe vor Jahren vermutet, Fausers Tod hänge mit Recherchen über die Verbindung von Politik und Drogenmilieu zusammen, wie sie Massnahmenkritiker heute für selbstverständlich halten: Abhängig wollen sie uns machen, vergiften, fernsteuern, und zwar nicht die Idiotinnen auf Facebook oder Telegram, sondern Politiker, die nicht U. Maurer sind. Fauser dagegen könnte vielleicht noch leben, hätte er damals laut bimmelnde Treicheln auf den Schultern gehabt; oder wenigstens Treichel, denn mit so einem gestandenen Schriftstellerkollegen auf den Schultern kommt man ja nicht zu Fuss bis zur Autobahn!
Wenn Fauser aber überhaupt jemand auf den Schultern gehabt hätte, dann wohl Achim Reichel, und vielleicht hätten sie gemeinsam den «Spieler» gesungen: «Er hat alle Zahlen durch und auf allen verloren / Er weiss, wenn er jetzt verliert, dann ist er selbst verlor’n», und Fauser hätte gedacht: Mensch, ich weiss schon, warum ich meine Gedichte lieber ohne Reime mache. Wer aber alle Zahlen durch hat, der muss sich einen Reim machen, und der geht halt so, dass man keinen Bock mehr auf staatliche Massnahmen hat. Immer nur Massnahmen, Massnahmen, Massnahmen! Und das hängt man dann an eine grosse Glocke, die keine ist. Sondern behämmert.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop/buecher.