Gesundheitswesen: Wenn jede Minute zählt

Nr. 44 –

Chronische Überbelastung, zu wenig Zeit für Patient:innen, immer mehr Behandlungsfehler: Zwei Pflegefachfrauen geben Einblick in ihren Arbeitsalltag.

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Herbstabend im Aussenquartier einer grösseren Schweizer Stadt, Punkt 17 Uhr. Luisa Cortesi* wartet in ihrem Spitex-Auto auf den Journalisten, der sie auf ihrem Abenddienst begleiten will. Nun aber verpasst dieser ein Tram und kommt sieben Minuten zu spät. Schon beginnt die Wettfahrt. «Noch drei Minuten Fahrzeit», steht auf dem Gerät, das Cortesi in den Händen hält. Vor einem Wohnblock parkiert sie und eilt mitsamt ihren pflegerischen Hilfsmitteln im Rucksack zur Eingangstür. Erster Kunde an diesem Abend ist ein alleinstehender Senior, der an der Parkinsonkrankheit leidet. 35 Minuten später taucht Cortesi wieder auf. «Alles gut», sagt sie, sichtlich erleichtert, während sie die noch verbleibende Zeit bis zur nächsten Kundin abfragt.

Seit der Einführung der neuen Pflegefinanzierung im Jahr 2011 müssen Spitex-Mitarbeiter:innen jede Behandlung minutenweise zuordnen und dokumentieren. Auf der Fahrt zur nächsten Kundin, einer demenzerkrankten Frau, erzählt Cortesi, die eine dreijährige Tochter hat, über die Schwierigkeiten, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen: «Wir müssen zum Beispiel auch Minusstunden, die nicht selbstverschuldet sind, wieder aufholen. So kann es Tage geben, an denen ich 80 Prozent arbeiten muss, obwohl ich wegen der Kinderbetreuung bewusst nur ein 60-Prozent-Pensum angenommen habe. Ohne ein gutes familiäres und soziales Netz ist das schlicht nicht machbar. Und schon gar nicht aushaltbar: Ich jedenfalls kenne niemanden, der diesen Job in einem 100-Prozent-Pensum macht.»

Erhöhte Mortalität

Was bedeutet das konkret, wenn immer mehr Pflegefachleute vor lauter Erschöpfung den Beruf aufgeben, zu wenig diplomiertes Personal zur Verfügung steht und sich nur mühsam neues finden lässt? Martina Kunz* sagt es direkt: «Wir werden Sie oder eine Ihnen nahestehende Person nicht so betreuen, wie es vonnöten wäre.» Auch die Pflegefachfrau, die im Notfall eines grösseren Schweizer Spitals arbeitet, scheut sich, mit ihrem echten Namen in der Zeitung zu erscheinen – zu gross ist die Angst vor negativen Konsequenzen am Arbeitsplatz.

Pflegefachleute seien «Meister:innen im Wegstecken, Verzichten, Durchbeissen und Immer-wieder-Überzeit-Leisten», sagt Kunz. Bis zu einem gewissen Grad gehöre das ja auch zu diesem Beruf, und sie sei froh, das für sich so gelernt zu haben. «Die Sinnfrage jedenfalls muss ich mir nie stellen. Doch es hätte nie zum Normalzustand werden dürfen, dass wir immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit verrichten und komplexere Behandlungen mit weniger Personal durchführen – unter dem Deckmantel der Optimierung, auf Kosten der Sicherheit der Patient:innen.» Erwiesenermassen werde so eine erhöhte Mortalität in Kauf genommen: «Dabei haben wir lange vor dieser Pandemie immer wieder auf die Gefahren der Sparpolitik, der Gewinnmaximierung und des Vertrauens auf fortlaufend neues Personal aus dem Ausland hingewiesen. Und nun? Werden wir bei jeder Sitzung mit irgendwelchen verrückten Zahlen und Tabellen bedient, die belegen sollen, dass wir kein Personalproblem hätten.»

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Luisa Cortesi parkiert ihren Wagen vor einem Reihenhäuschen. Bis sie wieder erscheint, dauert es fast eine Stunde. «Die ganze Zeit auf die Uhr schauen – das spürt doch mein Gegenüber!», sagt sie und überprüft bereits wieder, wie viel Minuten in der Zwischenzeit verloren gingen. «47 Minuten in Verzug.» Die vorgegebenen Zeiteinheiten bei der verwirrten Kundin annähernd einzuhalten: «Unmöglich», sagt Cortesi. Medikamente zerstückeln, portionieren und verabreichen; Essen bereitstellen; Insulin spritzen; aus- und anziehen; Gang auf die Toilette; öffnen und schliessen des Urinbeutels; aufräumen, putzen – und die Kundin dazwischen immer wieder beruhigen: «Das alles braucht seine Zeit.»

In Momenten wie diesen, da sie von einer zur nächsten Kundin braust, komme sie sich vor wie eine Kurierin, sagt Cortesi. «Es sind Algorithmen, die meinen Weg vorgeben.» Durch die elektronische Leistungserfassung kann ihre «Produktivität» jederzeit exakt berechnet werden. Und über allem wacht die Krankenkasse: Pflegefachleute werden nur für jene Leistungen bezahlt, die den Kassen in Rechnung gestellt werden können und vom Kanton subventioniert sind. Vorbereitungsarbeiten gehören nicht dazu; und auch die Fahrzeiten werden oft nur pauschal abgegolten.

Schlafstörungen und Panikattacken

«Vielleicht sollten Sie sich grundsätzlich überlegen, ob das der richtige Arbeitsort für Sie ist»: Solche Sätze muss sich Martina Kunz anhören, wenn sie auf Missstände in ihrem Spital aufmerksam macht. «Ich ahne zum Beispiel schon, was heute auf uns zukommt: arbeiten bei halber Besetzung», sagt sie am Telefon. Viele Kolleg:innen klagten über Schlafstörungen und Panikattacken. Vielleicht werde ihnen dann vorgeschlagen, das Pensum zu reduzieren, falls sie das nicht schon selber beantragt hätten, «weil sie schon mit einem Bein in der Erschöpfungsdepression stehen». Und dann fügt Kunz hinzu: «Aber es muss doch möglich sein, mein Pensum beizubehalten, um auf das Gehalt zu kommen, das ich für mich und die externe Betreuung meiner Kinder benötige.»

Wenige Wochen vor der Abstimmung über die Pflegeinitiative am 28. November ist die Nervosität in den Spitaldirektionen gross. Sie geht so weit, dass man dem Personal in vereinzelten Spitälern allein schon das Tragen von Buttons der Ja-Kampagne verbieten wollte. Doch ob in Spitälern, Pflege- und Altersheimen, bei der Spitex oder in der Psychiatrie: Der Geduldsfaden der Pflegefachleute reisst. Zumal die chronische Überbelastung schon vor mehreren Jahren begonnen hat und stetig zunimmt – «in einem schleichenden Prozess», wie Kunz betont, «in dem es sehr schwierig war und immer noch ist, sich zu wehren. Es brauchte leider ein Ereignis wie diese Pandemie – und einen Anlass wie die Pflegeinitiative –, um uns Gehör zu verschaffen.»

Zwar sei die Solidarität unter dem Personal bereits im Vorfeld der Lancierung der Initiative gewachsen, sagt Kunz. Doch Widerstand sei weiterhin schwierig: «Unser Beruf ist bezeichnenderweise immer noch sehr frauenlastig. Und viele von uns sind Mütter, nicht wenige alleinerziehend, die es sich nicht leisten können, den Job zu verlieren.» Auch für sie selbst sei es eine stetige Gratwanderung: «Wie viel Widerstand kann ich mir erlauben? Man wird zum Enfant terrible gemacht, wenn man zu viel nachhakt.» Kurz nachdem Kunz an ihre Kolleg:innen Flyer für die Pflegeinitiative verteilt habe, sei auch prompt ein mahnendes Mail vom Vorgesetzten gekommen.

Der Druck von oben erschwert auch die gewerkschaftliche Organisierung. «Ja, es ist eine Herausforderung», bestätigt Elvira Wiegers, die als Zentralsekretärin des Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) für die Branche zuständig ist. In letzter Zeit jedoch werde die Notwendigkeit eines solchen Engagements immer mehr erkannt: «Unsere Kampagne ‹Road to Strike›, in deren Rahmen wir mit einem Streikbus Spitäler, Psychiatrien sowie Alters- und Pflegeheime in zehn Kantonen besuchten, hat gezeigt, dass die Bereitschaft für Protestaktionen steigt.»

Zwar seien umfassende Streiks in einem Bereich, in dem es um Menschenleben gehe, schwierig: «Es gibt aber die Möglichkeit von sogenannten Bleistiftstreiks.» Dabei werden gewisse administrative Arbeiten unterlassen und nur die für die unmittelbare Pflege und Betreuung notwendigen Informationen dokumentiert. Bereits 2018 hat der VPOD einen solchen Streik im Kantonsspital Fribourg durchgeführt – mit Erfolg, wie Wiegers betont. Mitte Oktober sei eine vergleichbare Aktion in einem grossen Spital in der Deutschschweiz angedroht worden – worauf sich die dortige Geschäftsleitung dann zumindest zu einem Gespräch bereit erklärt habe.

Verheimlichte Arbeit

Heute sei zwar insgesamt ein relativ ruhiger Abend, sagt Luisa Cortesi. Aber selbst das könne zu ihrem Nachteil werden: «Wenn ich für eine Handlung, für die 15 Minuten vorgeschrieben sind, nur 12 Minuten benötige, kommt der Teamleiter und sagt: ‹Ganze drei Minuten weniger – haben Sie eine Ahnung, wie viel weniger wir von der Kasse bekommen, wenn sich solche Fälle häufen?›» Sollte es eines Abends dazu kommen, dass Cortesi früher fertig ist, weil eine Kundin den Termin absagt, wird das in der Arbeitszeit als Minus verbucht – und muss an anderen Tagen kompensiert werden: «Diese strikten Zeitvorgaben machen einen krank: Am einen Ort hat man zu wenig Zeit für ein menschliches Gespräch, wenn es wirklich nötig wäre, anderswo müsste man das Gespräch künstlich in die Länge ziehen, selbst wenn es die Kundin ablehnt.»

Es gebe aber auch Tage, da schalte sie das Gerät aus Angst vor zu viel unverrechenbarer Arbeitszeit aus, bevor alles erledigt sei. «Schreibarbeiten oder der professionelle Austausch mit Kolleg:innen bleiben dann eben unbezahlt.» Und da die vorgegebenen Zeiteinheiten nur für die physischen Handlungen gelten, sei für Beziehungsarbeit keine Zeit vorgesehen. Wenn es dann nur noch darum gehe, «wie man das abrechnet, und nicht mehr schauen kann, was die Kundin gerade braucht», sei das auch psychisch belastend, sagt Cortesi: «So kannst du etwa auch nicht aufschreiben, dass du noch einen Kontrollbesuch gemacht hast – bei jemandem zum Beispiel, der sturzgefährdet ist.»

Die Sozialanthropologin Corinne Schwaller hat einige Monate nach der Einführung der neuen Pflegefinanzierung 2011 eine Umfrage unter Spitex-Mitarbeiter:innen gemacht. Alle Interviewten betonten, dass ambulante Pflege für sie auch einen sozialbetreuerischen Auftrag habe, wozu auch der Einbezug des sozialen Umfelds gehöre. Auch hauswirtschaftliche Leistungen wie Putzen oder Kochen hätten pflegerischen Charakter, da gerade dabei viel Beziehungsarbeit geleistet werde. Weil sie aber nicht im Leistungskatalog enthalten ist, wird sie aus Verantwortungsbewusstsein halt eben unsichtbar geleistet. Sprich: unbezahlt. Viele Spitex-Angestellte verzichten aus diesem Grund regelmässig auf Pausen – oder verbringen sie bei Klient:innen.

Eines sei gewiss, sagt Elvira Wiegers: «Auch nach einem Ja für die Pflegeinitiative wird und muss der Arbeitskampf weitergehen.» Eine Ahnung davon, was die Gewerkschaften fordern könnten, gab eine Protestaktion von Spitalangestellten im Park des Unispitals Zürich vor einer Woche. Der Notfall-Pflegefachmann Denny Mai verlas mögliche Forderungen: 36-Stunden-Woche und 110 Prozent Lohn, bis genug Personal vorhanden ist; doppelte Zeitkompensation für Nachtdienste und Verdoppelung der Zulagen für Nacht- und Wochenendschichten; flexible Arbeitszeitmodelle; Ausbau der Krippenplätze. Und schliesslich: die Möglichkeit zur Pensionierung mit sechzig bei voller Rente. Am vergangenen Samstag in Bern, an einer nationalen Grosskundgebung des Gesundheitspersonals mit rund 5000 Teilnehmer:innen, wurden ähnliche Forderungen laut – inklusive einer angemessenen Covid-Prämie.

Reduktion auf «Kriegsmedizin»

Die Situation in den Spitälern sei ja schon seit Jahren bedenklich, sagt Martina Kunz. Die Pandemie habe die Problematik einfach noch verdeutlicht. «Wir wurden von Covid-19 überrascht. Anfänglich fehlten ausreichendes Schutzmaterial und die Möglichkeit, sich impfen zu lassen, was bei dieser hohen Exponiertheit sehr belastend war.» Auf der Intensivstation habe es kaum noch ein freies Bett gegeben, doch die Notfalltür sei natürlich trotz allem offen geblieben. «Auch der Rettungsdienst hatte immer wieder grosse Mühe, einen Platz für die Patienten zu finden.»

Und jetzt, da die nächste Welle bevorsteht? «Stehen wir da mit weniger Personal denn je!», so Kunz. Behandlungs- und Medikationsfehler häufen sich, Krankheitsausfälle nehmen noch mehr zu: «Ich bin froh, wenn ich während meiner Schicht überhaupt etwas essen kann. Manchmal stopfe ich mir nach dem überfälligen Gang aufs WC ein Stück Brot in den Mund und mache mich kauend auf zur nächsten Patientin.» Zurzeit müssten Patient:innen gar wegen Bettenmangel oder unzureichender Personalkapazität auf den Bettenstationen mehrere Nächte auf dem Notfall schlafen.

«Kriegsmedizin», sagt Kunz, dieses Wort wäre manchmal durchaus angebracht, um die Arbeit bei der derzeitigen Bewältigung des Patient:innenstroms zu beschreiben. «Eigentlich sind wir immer wieder am Punkt, wo wir uns nur noch auf Schwerkranke konzentrieren und das Allernötigste leisten können. Aber wer will das schon – mitten in diesem reichen, kriegsverschonten Land?»

* Namen geändert.

Pflegeinitiative

Die Situation des Pflegepersonals war schon Jahre vor der Coronapandemie untragbar. Immer mehr gut ausgebildete Pflegefachleute verlassen den Beruf schon nach wenigen Jahren.

Bereits heute sind laut dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) über 11 700 Pflegestellen unbesetzt. Bis 2029 braucht es laut Schätzungen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums über 70 000 zusätzliche Pflegende, davon 43 200 Pflegefachpersonen. Das hiesse, dass die Abhängigkeit von Pflegefachleuten aus dem Ausland noch grösser würde.

Für den SBK ist eine angemessene Abgeltung der Pflegeleistungen daher unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Spitäler, Psychiatrien, Rehabilitationszentren, Alters- und Pflegeheime sowie Spitex genügend gut ausgebildete Pflegende anstellen. Mit der Pflegeinitiative, über die am 28. November abgestimmt wird, fordert der Verband neben einer Ausbildungsoffensive (auf die sich der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrats beschränkt) insbesondere bessere Arbeitsbedingungen: verlässliche Zeit- und Dienstplanungen, klar vorgegebene Personaldotierungen, familienfreundliche Strukturen, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten – sowie Löhne, die den Anforderungen entsprechen. Auch sollen Pflegefachpersonen typische pflegerische Leistungen ohne ärztliche Unterschrift abrechnen können.