Armer Kanton Bern: Den Staat sanieren, die Kranken ruinieren

Nr. 5 –

Im Dezember hat der Kanton Bern massive Sparmassnahmen beschlossen. Besonders heftig trifft es das Gesundheitswesen.

Noch ist die Hälfte der Pflegenden gut qualifiziert: Die Sparvorgaben werden auch im ­Alterspflegeheim Burgdorf gravierende Folgen haben.

Draussen im Teich quaken an diesem Nachmittag die Enten, und durch die Gänge des Alterspflegeheims Burgdorf flutet Sonnenlicht.

Doch wo man auch hinhört im Berner Gesundheitswesen: Die Stimmung ist düster. Aus Gewerkschaftsbüros, Personalkantinen und Spitalabteilungen dringen Gerüchte: Wen trifft es? Welche Klinik muss welche Station schliessen? Wo soll in welchen Pflegeheimen gespart werden? Als ob der Druck in Spitälern, Kliniken und Heimen das gesundheitsverträgliche Mass nicht schon überschritten hätte, hat der Berner Regierungsrat auf Druck des Parlaments im Dezember Sparmassnahmen verabschiedet, die insbesondere im Gesundheitswesen einschlagen. «Sanierung der Finanzen»: Anlass für den grössten Leistungsabbau (total 230 Millionen Franken) in der Kantonsgeschichte gab ein strukturelles Defizit von 450 Millionen Franken, das sich im Wesentlichen auf Steuersenkungen zurückführen lässt.

Perrenouds Albtraum

In der siebenköpfigen kantonalen Exekutive sitzen drei SozialdemokratInnen. Und ein Grüner. Zuständig für Gesundheit und Fürsorge ist Philippe Perrenoud. Als langjähriger Direktor der Psychiatrischen Dienste Berner Jura und Biel-Seeland war der Sozialdemokrat zuvor ausgerechnet in jenem Bereich tätig, der neben der Alterspflege am heftigsten beschädigt wird: 11,6 Millionen Franken müssen in diesem Jahr allein in der Psychiatrie weggespart werden.

Das historische Ausmass manifestierte sich zunächst im Widerstand auf der Strasse: Im März 2013 versammelten sich rund 20 000 Menschen auf dem Bundeshausplatz, um gegen die kantonalen Abbaupläne im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen zu protestieren. Inzwischen sind aber die Sparpläne der Regierung vom bürgerlich dominierten Parlament gar noch weiter getrieben worden. Im Gesundheitswesen konnten wenigstens die Behindertenverbände einigermassen erfolgreich intervenieren, was zeigt, dass körperlich und geistig behinderte Menschen auch im Bernischen eine stärkere Lobby haben als psychisch Behinderte. Rolf Ineichen, Klinikdirektor des Psychiatriezentrums Münsingen, sah sich daraufhin im «Bund» dazu veranlasst, aus Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» zu zitieren: «Bezeichnend für jene Unglücklichen ist es, dass sie nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit haben.»

Doch auch alte und pflegebedürftige Menschen gehören zu diesen «Unglücklichen»: Statt wie von der Regierung ursprünglich vorgesehen auf 8,8 muss nun nämlich auch in der stationären Langzeitpflege auf 12 Millionen Franken verzichtet werden. Dies, nachdem der Grosse Rat auf Druck des Heimverbands die geplanten Kürzungen bei den Heiminfrastrukturkosten ganz auf die Pflege abgeschoben hatte. «Beton statt Pflege» lautet dazu der bittere Kommentar aus der Ratslinken – pointierter lassen sich die Interessenkonflikte, die unter einem solchen Spardruck auch innerhalb des Gesundheitswesens entflammen, kaum zusammenfassen.

Programmierter Qualitätsverlust

Der Himmel ist blau über Burgdorf an diesem Nachmittag. Es plätschert ein Brunnen. Überhaupt liegt fast schon eine gewisse Heiterkeit in der Luft, und in der Cafeteria spielen zwei Kinder mit einer älteren Dame Karten. Doch Lucia Schenk, Pflegedienstleiterin des Alters- und Pflegeheims Burgdorf und Vizepräsidentin des Berufsverbands der Pflegefachfrauen und -männer (SBK) Sektion Bern, macht sich keine Illusionen: «Der Anteil der diplomierten Pflegefachleute wird durch die Sparmassnahmen vermutlich noch tiefer.»

Nun hat der Kanton zwar einen Richtstellenplan erarbeitet, nach dem in jedem Heim zwanzig Prozent des Pflegepersonals aus diplomierten Pflegefachleuten bestehen sollen. Doch unter solchen Bedingungen, so Schenk, sei selbst der Mindeststellenplan (sechzehn Prozent) nur schwer zu erfüllen. Umso mehr, als im Kanton Bern die Monatslöhne für Vollzeitarbeit beim Fachpersonal wie in der Pflege im interkantonalen Vergleich um bis zu tausend Franken hinterherhinken und ein Bericht der Volkswirtschaftsdirektion weitere gravierende Mängel bei den Arbeitsbedingungen offengelegt hat. Insbesondere betrifft das verschiedene Formen von Arbeit auf Abruf, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und ein Privatleben behindern – und so auch zur Abwanderung von Fachpersonal führen.

Gewerkschaftssekretärin Bettina Dauwalder, bei der Berner Sektion des Verbands des Personals Öffentlicher Dienste (VPOD) für den Gesundheitsbereich zuständig, weiss aus täglicher Erfahrung, wie tiefgreifend das Gesundheitswesen umgebaut wird: «Jetzt kämpfen wir dafür, dass die Anstellungsbedingungen in Spitälern, Heimen und bei der Spitex angesichts des Spardrucks der öffentlichen Hand und einer starken Privatisierung nicht unter die Räder kommen.» Dazu brauche es gerade bei privaten Anbietern, die ihr Personal zu miserablen Bedingungen anstellten, kollektive Vertragswerke: «Seit 2000 haben wir einen Gesamtarbeitsvertrag für die Berner Spitäler – und seit Anfang dieses Jahres endlich auch einen GAV für die Alters- und Pflegeheime. So können wir immerhin bestehende Mindestlöhne schützen.»

Nun aber ist davon auszugehen, dass auch in den Pflegeheimen beim Fachpersonal Stellen reduziert werden. Helena Zaugg, geschäftsführende Präsidentin des SBK Sektion Bern, bestätigt: «Erste Anpassungen an die Sparvorgaben werden jetzt vorgenommen.»

Freiwilligenarbeit als Scheinlösung

Im Alterspflegeheim Burgdorf sind bislang immerhin noch die Hälfte aller Pflegenden zumindest Fachangestellte; die andere Hälfte der Arbeit wird schon heute von weniger qualifizierten PflegehelferInnen bestritten. Vereinzelt werden gar Rufe laut, die Personalprobleme mit freiwilligen HelferInnen zu lösen. Diese Rechnung aber geht nicht auf – zum einen, weil heute die meisten Menschen bereits krank sind, wenn sie ins Heim kommen, und daher professionelle Pflege benötigen; zum anderen, weil das letztlich nichts anderes als eine Verschiebung der unbezahlten Pflege- und Betreuungsarbeit von privaten Haushalten in Pflegeheime bedeuten würde.

Lucia Schenk sagt es klar und deutlich: «Wenn wir die Qualität der Pflege sichern wollen, braucht es mehr Fachpersonal.» So sieht zum Beispiel die aktuelle Regelung des kantonalen Alters- und Behindertenamts vor, dass in Notfällen innerhalb von zehn Minuten eine Fachangestellte und innerhalb dreissig Minuten eine diplomierte Pflegefachperson bei der Patientin sein muss. Was zu erfüllen noch schwieriger wird, zumal in den Pflegeheimen mit der Einführung der Fallpauschalen (2012) auch die Pflegenot- und Nachbetreuungsfälle zunehmen: Seit jeder Spitalaufenthalt dem Krankenhaus anhand bestimmter Kriterien pauschal vergütet wird, werden viele PatientInnen immer häufiger zu früh entlassen. In Burgdorf ist auch deshalb ein Neubau mit einer Aufnahmeabteilung für KurzaufenthalterInnen und akute Übergangspflege geplant.

Kommt hinzu, dass immer mehr Menschen in Einpersonenhaushalten leben – und somit im Fall einer chronischen Krankheit früher ausserfamiliäre Betreuung benötigen. Die Tatsache wiederum, dass immer mehr Menschen immer älter werden, lässt auch die Zahl von Demenzkranken ansteigen – das Alters- und Pflegeheim führt seit zehn Jahren zwei eigene Demenzabteilungen.

Auch der Abbau in den Psychiatrien trägt dazu bei, dass immer mehr Menschen mit schweren Erkrankungen in Pflegeheimen landen. Allein im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM), einer der grössten psychiatrischen Kliniken der Schweiz, müssen in diesem Jahr 4,86 Millionen Franken gespart werden. Es würde kaum überraschen, wenn bald eine ganze Station geschlossen würde – die PZM hat vom Kanton den Auftrag, 53 sogenannt nicht spitalbedürftige LangzeitpatientInnen bis Ende des Jahres zu entlassen.

Wo diese PatientInnen platziert werden könnten, ist derzeit noch unklar. Die Suche nach neuen Plätzen gestaltet sich jedenfalls schwierig – Heime haben im Gegensatz zur Psychiatrie keine Aufnahmepflicht. Frühere Versuche, LangzeitpatientInnen aus der Psychiatrie auszulagern, sind meist gescheitert – viele Heime sehen sich mit der Betreuung psychisch kranker Menschen überfordert. Ginge es nach Rolf Ineichen, dem Klinikdirektor, müssten nun insbesondere jene Heime Hand bieten, die von den Sparmassnahmen weniger hart getroffen werden: die Behindertenheime.

Das Beispiel Münsingen zeigt: Menschen mit einer psychischen, geistigen oder körperlichen Behinderung werden gegeneinander ausgespielt. Doch auch die Angestellten sind in Münsingen schon seit längerem am Anschlag, zumal das PZM und die Psychiatrische Klinik Waldau gemäss Versorgungsplan 2011 bis 2014 auch noch verselbstständigt werden und bis 2017 mit den Universitären Psychiatrischen Diensten fusionieren müssen. Im Rahmen dieser Verwettbewerblichung wurde in Münsingen bereits vor dem Sparentscheid eine Taskforce gebildet, um das Angebot neu zu überprüfen.

Die Privatisierung der Gesundheitsversorgung ist im Kanton Bern in vollem Gang. Was ganz im Sinn der BDP-Finanzdirektorin Beatrice Simon ist. Ginge es nach ihr, soll im nächsten Jahr noch massiver gespart werden. Die bürgerliche Mehrheit im Parlament hat dazu dieser Tage in der Januarsession bereits einen Teilerfolg errungen. Titel des Vorstosses: «Nachhaltige Sanierung der Finanzen». Und schon ist der Regierungsrat dazu verpflichtet, ein weiteres Sparpaket vorzulegen.

Ein erstes Gerücht ist nun Tatsache geworden: Soeben hat die Spitex Bern die Entlassung von 32 Mitarbeiterinnen bekannt gegeben, die in der Hauswirtschaft tätig waren.

Sparen überall

Auch im Bildungs- und Sozialwesen wird im Kanton Bern massiv gespart. Schmerzhaft zu spüren sein werden für viele auch die Kürzungen bei den Prämienverbilligungen: 24 Millionen Franken sollen dadurch gespart werden – zulasten von über 40 000 KantonsbewohnerInnen, darunter viele Familien des unteren Mittelstands.

Die Grünen des Kantons Bern wollen dagegen nun rechtlich vorgehen. Sie berufen sich auf ein Gesetz, nach dem 25 bis 45 Prozent der Kantonsbevölkerung Anspruch auf verbilligte Krankenkassenprämien haben.

Nachtrag vom 20. Februar 2014: Kranksparen trotz Geldsegen

Im Dezember verabschiedete der Regierungsrat des Kantons Bern das grösste Abbaupaket der Kantonsgeschichte. Aufgrund eines strukturellen Defizits von rund 450 Millionen Franken sollen um 230 Millionen gespart werden. Besonders betroffen ist das Gesundheitswesen – allein in Psychiatrie und Alterspflege sollen 2014 je zwölf Millionen Franken gespart werden.

Ende Januar wurden erste konkrete Massnahmen bekannt: Im Psychiatrischen Zentrum Münsingen wird Ende Juni eine ganze Station geschlossen – wohl zwanzig MitarbeiterInnen verlieren die Stelle, und für achtzehn LangzeitpatientInnen müssen nun Plätze in Pflegeheimen gefunden werden. Bei der Spitex Bern sind bereits 32 MitarbeiterInnen entlassen worden.

Nun überrascht Finanzdirektorin Beatrice Simon (BDP) mit der Nachricht, dass die Kantonsrechnung 2013 mit einem Überschuss von 100 bis 150 Millionen Franken abschliessen werde – dank der positiven konjunkturellen Entwicklung würden die Steuereinnahmen bei den Unternehmen höher als erwartet ausfallen. Im Oktober prognostizierte der Regierungsrat noch ein Defizit von 170 Millionen Franken.

Für die Leidtragenden der Sparmassnahmen muss sich die verspätete Erfolgsmeldung wie Hohn anhören. Immerhin: Der Zuspruch für ein weiteres Sparpaket für das Jahr 2015, das der Regierungsrat dem Grossen Rat aufgrund einer Motion der bürgerlichen Fraktionen vorlegen muss, wird nun wohl kleiner.