Herta Müller: Fremde Wörter bewohnen
Das neue Buch der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller führt ins Spannungsfeld von Bürokratie und literarischer Freiheit. Beglückend und bestürzend sind ihre Gedichte – als Collagen sind sie derzeit in einer Ausstellung in Baden zu sehen.
Hier liegt ein Buch vor, in das man eintreten kann. Das Museum Langmatt in Baden zeigt Collagen, die dieses Jahr auch als Bildband erschienen sind. Seit dreissig Jahren macht Herta Müller Bilder aus Wörtern, die sie aus Zeitschriften und Werbeprospekten ausschneidet. 1600 Einzelstücke sollen es bisher sein.
Im aktuellen Band «Der Beamte sagte» fügen sich erstmals rund 150 Collagen zu einer Erzählung, ein Grossteil ist in Baden im Original zu sehen. In den zuvor erschienenen Bänden waren die einzelnen Texte so lose verbunden geblieben wie Gedichte. Sie konnten in einem ganz praktischen Sinn inspirierend wirken. In Zeiten, in denen das Zeitunglesen unerträglich wurde, regten sie dazu an, mit der Schere zu lesen – Titel zu zerschneiden, um daraus neue, ganz andere Texte zu machen. Das Zeitgeschehen wirkte dadurch weniger erdrückend. Wobei aber auch deutlich wurde, wie schwierig das Collagieren ist, wie viel Geduld und Methodik Herta Müller aufbringen muss, um ausschliesslich mit vorgegebenen Wörtern zu schreiben, also keine selbstgeschriebenen Satzteile und Überleitungen hineinzuschummeln. (Nur wenige Wörter sind bei ihr aus einzelnen Buchstaben zusammengeklebt.)
Gleichmässige Abstände lassen die Collagen fast schon luftig wirken und doch übersetzt sich die Arbeit des Sammelns, Ordnens und Einpassens in eine ungeheure Dichte der Texte. Auch der Genuss ist ihnen anzumerken, der sich eingestellt haben muss, wenn sich aus glücklichen Fügungen und dem aktiven Zusammenfügen Sätze ergaben wie der folgende:
«manchmal HAB ICH mich vermisst oft haben MICH DIE fremdesten MÖBEL IM ABTEIL DES ZUGES unverhofft beim WOHNEN erwischt»
Dieser erste Satz von «Der Beamte sagte» leitet die inhaltliche wie auch die sprachliche Ebene der Erzählung ein. Die beiden sind nicht zu trennen. Da ist eine Frau im Exil, die noch nirgends angekommen ist. Aus dem Auffanglager Nürnberg Langwasser, in dem Herta Müller 1987 nach der Flucht aus Rumänien wohnen musste, wird hier das «Auffanglager Langwasser». Der Flurname geht neue Verbindungen ein zum «Vogel mit dem Silberkragen», zu einer Baugrube, wohin Spaziergänge führen, zu Nebel und Wolken. Verschiedene Beamte, die zur Befragung oder zum Verhör laden, werden zu zentralen Figuren der Erzählung. Die collagierten Schnipsel bringen solche Gespräche durcheinander und in eine neue Ordnung. In die «amtlichen Schweighöfe» und die «falsch gestellten Fragen» brechen unvorhergesehene Tiefenschichten, Erkenntnisse, Spässe und Sprachbilder ein.
«DER Beamte flüsterte NA klar gibt ES 13 kahle Schicksale aber auch 17 Zukünfte meine Frau SCHWÖRT am schärfsten war BISHER DIE fünfte.»
«der Beamte sagte Es gibt zahllose laufende und abgeschlossene DATEN ICH verstand zahnlose laufende und abgeschossene Soldaten und hörte mich sagen hier vergehen die TAGE UNGETRAGEN.»

Der erste Satz von den «fremdesten Möbeln» im Zug berührt aber auch das sprachliche Geschehen. Mit fremdesten Wörtern – den irgendwo ausgeschnittenen Schnipseln – macht Herta Müller Sätze, die sie in gewisser Weise zu bewohnen scheint. Jedenfalls ist ihnen beim Lesen ein unverkennbarer Herta-Müller-Ton anzuhören. Und sie macht klare eigene Aussagen, indem sie die Beamt:innensprache der Einwanderungsbehörden zerpflückt wie auch die Verleumdungsrede einer Organisation von Geflüchteten, die ihr unterstellt hat, eine Agentin des rumänischen Geheimdiensts zu sein. Dadurch ist in der Erzählung eine Grundbedingung von Sprache immer spürbar, die im Umgang mit Behörden ganz besonders brutal werden kann. Das gilt in extremem Mass für ein totalitäres Regime wie das von Nicolae Ceausescu im kommunistischen Rumänien. Allerdings lässt sich auch in gutartigen Institutionen wie zum Beispiel einer Sozialversicherung folgende Grundspannung nicht auflösen: In jeder Sprache und jedem Land sind Wörter und grammatikalische Regeln vorgegeben, sie müssen gelernt werden, allgemein verständliche Sätze folgen einer gesellschaftlichen Übereinkunft, die sich gegen das ganz Individuelle und Einmalige sperrt.
Gegen jede Vorschrift
Arbeit, manchmal pure Not, auch Witz und Geistesblitze sind nötig, um in der gelernten Sprache etwas wirklich Persönliches zu sagen – was dann nicht verallgemeinerbar ist und deshalb für Behördentexte unbrauchbar. In diesem Sinn lässt sich das Lob der kürzlich verstorbenen Schriftstellerin Friederike Mayröcker für die Werke der Lyrikerin Elke Erb verstehen, für deren «unbetretbare Sprache, ihre undurchdringlichen Sprachhüllen, ihre leuchtende GROTTENSPRACHE, GANGLIENSPRACHE, ihre gemalte ÜBERSETZUNGSSPRACHE, analog einem Wort von Marcel Proust: die guten Bücher sind in einer Art Fremdsprache geschrieben».
Mit den Grotten von Elke Erb, die Friederike Mayröcker 1995 in einer Laudatio pries, hat Müllers neue Erzählung wenig gemeinsam. Auf eine ganz andere, wunderbar leichte Art setzt sie aber die Spannung zwischen den übernommenen Wörtern und den neuen Sätzen in Szene. Sie nimmt Wörter auf, die nicht ihre eigenen sind, und macht daraus Sätze, die fremd und doch richtig klingen. Der Behördensprache begegnen diese Collagen also nicht mit Kritik an einzelnen Begriffen. Sie zielen nicht darauf ab, die Amtssprache zu verbessern, sondern sie behaupten den Raum einer literarischen Sprache, die sich jeder Vorschrift – jedem Vor-Schreiben – durch ein Amt, einen Verband oder eine politische Bewegung widersetzt.
In einer Poetikvorlesung, die Herta Müller 2007 im Literaturhaus Zürich hielt, sprach sie von «tragenden Sätzen» und «wandernden Kommentaren», die ihre Romane durchziehen. Es sind Sätze, die sie schon als Kind aufgeschnappt hatte und die später dabei halfen, «das Geschehen zu raffen». Sie seien da, «wenn es nackte Stellen gibt», man wisse aber nicht, was sie bedeuten. Solche Sätze lassen sich als bewegliche Anker einer poetischen Ordnung deuten, die einer unerträglichen Wirklichkeit entgegensteht. Gerade deshalb haben sie, in den Worten jener Poetikvorlesung, «keine amtliche Gültigkeit».
Ein Gefühl der Einsamkeit
Eine ungebrochene Hymne auf das ganz Eigene ist «Der Beamte sagte» aber nicht, zu sehr durchdringt ein Gefühl der Einsamkeit die Szenerie im Auffanglager, die wiederkehrenden Gespräche mit dem «sogenannten Herrn Fröhlich von der Prüfstelle B» oder einer «unbekannten stark geschminkten Dame mit dem russischen Akzent».
«wenn du allein bist wachsen der Zeit
AM HELLICHTEN Tag langsam drei HÄNDE
schlimmer IST diese samtene Pfote am Ende
der Eindeutigkeit»
Im Original sind die Reime nicht durch Zeilenumbrüche herausgehoben, trotzdem geben sie den Sätzen Struktur. Auch die Reime bilden eine artifizielle Gegenordnung zu jener der Behörden, und manchmal scheinen sie das Schematische eines Fragebogens auszustellen. Sie verschwistern sich mit den kleinen Schatten der aufgeklebten Schnipsel, denn auch sie stehen für das Materielle der Wörter. Ihre historisch gewachsenen Eigenheiten – die Laute und Endungen – sind Anlass zum Spiel mit dem, was eine Prüfstelle fragen könnte und was das wirkliche Leid immer verfehlt: dass ein Vater für die Flucht seiner Tochter verhaftet wird und dass sich Freund:innen aus Verzweiflung und Angst das Leben genommen haben.
«einer stirbt ohne Abschied und MAN sieht das SIEB der Details und kann wieder nicht beweisen WAS man weiß DEN herbeigeführten SUIZID Ich glaub DAS Nie-Gesagte belügt den STAUB der ERDE und das Zehenlied»
Die Ausstellung «Herta Müller. Der Beamte sagte» im Museum Langmatt in Baden ist bis am 5. Dezember 2021 zu sehen.
Herta Müller: Der Beamte sagte. Erzählung. Hanser Verlag. München 2021. 161 Seiten. 34 Franken