Friederike Mayröcker (1924–2021): Staunend vor der Unbegreiflichkeit des Lebens

Nr. 23 –

Und dann entdeckte er Gott an der Wand, als eine Art goldene Blase: Der Schriftsteller Clemens J. Setz zum Tod der grossen österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker.

Am 4. Juni starb im Alter von 96 Jahren in Wien die grösste Dichterin der deutschen Sprache, Friederike Mayröcker. Nun sind wir allein. Verkraften muss man so einen Verlust nicht. Es fühlt sich völlig unmöglich und inakzeptabel an, dass gerade sie nun fehlt. Mein ganzes Leben lang war sie der verlässlich existierende und produzierende, ungeheure Sprachspeicher an Zart- und Wildheit, an Herrlichkeit und Spiel, an unvergleichlichem Lobpreis der Schöpfung und würdevoller Trauer um deren Schattenseiten.

In manchem würdigendem Nachruf wird Friederike Mayröcker als «Grande Dame der Avantgarde» bezeichnet, was sicher nicht falsch ist, aber dennoch eine Sache völlig ausser Acht lässt, die normalerweise nicht mit dem Wort «Avantgarde» einhergeht und die man am Tag, da die traurige Meldung kam, überall sehen konnte: ihre grosse Verehrung durch Leute aus allen Bereichen des Lebens, nicht nur durch KennerInnen der Literatur oder «professionelle» LeserInnen. Avantgarde hat nicht oft eine solche umspannende, begeisterte Leserschaft. Es war tröstlich zu sehen, wie viele, gerade sehr junge Menschen ihre Gedichte kannten und liebten. Alle konnten Lieblingszeilen nennen, zeigten Screenshots aus den Büchern, zitierten und erinnerten.

Die erste Lesung, die ich nach meinem vor ein paar Jahren erfolgten Umzug von Graz nach Wien besuchte, fand in einer Kirche statt. Friederike Mayröcker las aus ihrem gerade erschienenen Buch «fleurs». In der ersten Reihe sass Hermes Phettberg. Zwischen den Texten erklang Orgelmusik. Ungewöhnlich viel Heiligkeit für eine Kirche. Auf einer Wand entdeckte ich nach einer Weile Gott, er war eine Art goldene Blase, und die Lichtreflexionen zauberten ihm durch Zufall ein Smileygesicht. Von den magischen Sätzen, die die Dichterin las, wurde ich innerlich weich wie ein Bienenknie, und auf meinem Scheitel bildeten sich Kornkreise. Hinterher tabernakelten die Sätze noch lange durch meinen Kopf. In einem Schaufenster drehte sich eine blonde Perücke; dazu ein kecker, halb ausgelaufener Mond über den Häusern.

Wie nach jeder Lektüre ihrer Bücher bewegte ich mich innerhalb eines Mayröckergedichts vorwärts.


Kein anderes Werk deutscher Sprache hatte oder hat diese Wirkung auf mich. Ich lese eine Seite, oder nur ein paar Zeilen, und die Welt fügt sich. Friederike Mayröcker hält in ihren Sätzen so etwas wie Akkorde von Empfindungen. Und viele ihrer Zeilen werden nie wieder aus meinem Gedächtnis verschwinden, ich wiederhole sie immer wieder, als Schutzformeln, im Alltag. «Waldbrausen ohne Schuld ohne Phönix» etwa, wenn sich draussen wieder die Bäume aufführen, oder das köstliche «Fagott-vergelts-Morgen, viel zu blau viel zu hell», wenn die Sonne einmal zu lieblich aufgeht über den Häusern. Oder, vermutlich selbsterklärend: «verborgen in Farnkrautbüschen Eichkatzen: Quellbezirk meiner verwilderten Bibliotheken». Dann auch noch «Der Regen trippelt gegen die Scheiben, es rieseln die Turnschuhe im Nachbarfenster» und das unwirkliche und unheilvolle: «wenn ich die Augen schliesze stelle ich mir vor die extremsten Karawanken».

Ihre Dichtung erschloss sich unmittelbar, durch feinen Humor, wie in dieser Meditation aus dem preisgekrönten späten Band «fleurs»:

lieber Hermes Phettberg, Sie sind mein Double, ich bin Ihr Double: massiv und 1 wenig vorgebeugt. Ich trage wie Sie einen Fischgrätmantel, Sie tragen wie ich einen Fischgrätmantel, ich trage wie Sie einen Plastiksack, Sie tragen wie ich einen Plastiksack, ich trage wie Sie lange Haare die sich am Hinterkopf teilen und vice versa, eine fremde Hand in Ihrem Nacken als ob sie zupacken wollte, eine fremde Hand in meinem Nacken als ob sie zupacken wollte …….. aber wir wissen nicht wessen Hand usw. im blumenverzierten Himmel des Wiener Westbahnhofs. Ihre Hände auf meinem Rücken halten den Plastiksack fest, meine Hände auf Ihrem Rücken halten den Plastiksack fest, eine tiefe Falte in Ihrem Mantel und vice versa. 1 Eskapismus und zartes Schneeballen lieber Hermes Phettberg, bitte machen Sie mir nicht alles nach = vielleicht sind Sie mein ready-made, usw.

Und durch ihre grosse, im Bereich der Dichtung allein noch von Walt Whitman eingeholte Liebe zu allen Erdendingen, selbst den nebensächlichsten: «nun ja ich hatte mich in den versilberten Pinguin (auf der Rückseite eines Werbetickets) VERLIEBT! ebenso hatte ich mich in die blauen fransenden Blütenkelche einer Kornrade, VERLIEBT ……»


Wie jeder vernünftige Mensch hasste Frau Mayröcker den Tod, bedauerte dessen absurd allgegenwärtiges Interventionsrecht in allen unseren Belangen. In meinem heimlichen Lieblingsbuch von ihr, «ich bin in der anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk», hält sie angesichts einer im Café Hummel eines Tages über sie gekommenen «sekundenlangen Vorstellung einer Aussöhnung mit dem bevorstehenden Ende, 1 ganz und gar unbekannte Emotion», die unmittelbar darauf folgende Abwehrhaltung gegen diesen Eindringling fest: «[Der Tod] murrte und kläffte als ich das Schuhgeschäft betreten wollte, schnappte nach mir, ich schaute ihm in die Augen, sie waren streng auf mich gerichtet, womöglich feindliche Augen, der Verkäufer sagte, er spürt das Gewitter (ich war irritiert, meine Liebe zu Hunden war ins Wanken geraten), um die Ecke leuchtet nein blendet nein blitzt nein birst die Sonne –»

Wie ungeheuerlich ist diese Zeile «meine Liebe zu Hunden war ins Wanken geraten», diese eigenartige Nervenreaktion eines momentweise in seiner Lebensfestigkeit irritierten Menschen. Wir müssen uns die Liebe zu Hunden erhalten. Aus dieser ihr späteres Werk stark prägenden würdevollen Auflehnung gegen den Tod entspringen die herzzerreissendsten Zeilen, die in unserer Epoche auf Deutsch verfasst wurden. Viele davon kreisen um den Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl (1925–2000): «Wenige Monate VOR SEINEM Tod, ich schnitt IHM eine Locke ab die sich in SEINEM Nacken kräuselte sie war weiszblond ALS VERBLÜFFEND.» Dieses leicht falsche «weiszblond als verblüffend», wie stark einen das beim Lesen trifft. Oder dieser ungeheure, weil neben den üblichen hoch polyphonen Mayröckersätzen plötzlich so schlicht daherkommende Satz «Wir haben uns jetzt lange nicht gesehen», geäussert in Gedanken vor dem Grab Ernst Jandls, acht Jahre nach dessen Tod. Es ist der Satz, der mich immer wieder, egal, wie oft ich ihn lese, das Staunen vor der Unbegreiflichkeit des Lebens am meisten fühlen lässt, über all diese für uns so bedeutsamen Parameter, das Geborenwerden, das Kindsein, die Eltern (Mayröckers humorvolles Begleitwort für diese lautet an einer Stelle «PROTUBERANZEN») – und plötzlich ist man riesengross und leidet, wird belauert, und muss doch täglich weitermachen. Dieses Staunen hielt Mayröcker unermüdlich fest, Jahr für Jahr, in Buch über Buch über Buch, bis in ihr (vorläufig) letztes, der Sammlung «da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete»:

wir schreiben den 9. November 2018 circa 30 Jahre nach dem Tag als Mama am offenen Korridorfenster des Wiener Neustädter Krankenhauses stand und den Säugling in den Armen der Ursula B. streichelte (eng. to caress!). Welcher, heute = Ursula B.’s Ebenbild! = mich begrüszte nämlich als mein zukünftiger Hausarzt mich begrüszte etc., so dasz ich jene Tränen welche ich damals beim Anblick des Säuglings vergosz nun, nach circa 30 Jahren, wiedervergosz, ein Enigma, sage ich, Mama nämlich schon lange begraben,

Das Enigma war ihr Metier, ihre Expertise. Wir, die nun zurückbleiben, müssen bei ihr in die Lehre gehen, um den Blick für das Enigma nicht zu verlieren. – Wie man vielleicht schon bemerkt hat, enden Friederike Mayröckers Absätze und Strophen selten mit einem Punkt, sondern fast immer mit einem Komma oder auch einem «usw». Vielleicht ist es dieser unauffällig am Ende so vieler Gedichte und Prosapoeme hereinkichernde Refrain, usw., an den wir uns halten sollten. Usw. Usw. Etwas geht tatsächlich weiter, etwas bleibt, ist vorübergehend unzerstörbar, selbst in diesem Universum, das unverdient Grosse und verwirrend Kostbare: das Leben.

Clemens J. Setz

Geboren 1982 in Graz, studierte Clemens J. Setz dort Mathematik und Germanistik. Für sein literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erkundete er im Buch «Die Bienen und das Unsichtbare» ( Suhrkamp 2020) die eigentümliche Welt von Plansprachen wie Blissymbolics und Volapük, und am Schauspielhaus Graz läuft die Uraufführung seines Stücks «Flüstern in stehenden Zügen».