Pop: Intim werden

Nr. 45 –

Der Lockdown hat wieder bewusst gemacht: Pop ist auch eine Kunst, Intimität zu erzeugen. Dass die Suche danach keineswegs zu kreativer und geistiger Enge führen muss, zeigt nicht nur das umwerfende neue Album der britischen Sängerin Tirzah.

Musik, die sich konsequent jeder falschen Einkehr und Zuflucht verweigert: Tirzah. Foto: Lillie Eiger

Was ist geschehen, wenn selbst die Meisterin apokalyptischer Retrosimulationen plötzlich nur noch bis zum Bildschirm vor sich blickt? Lana Del Rey führt Gespräche über Zoom und sie singt jetzt auch darüber, auf ihrem aktuellen Album «Blue Banisters». Im Song «Black Bathing Suit» sitzt sie da mit Grenadine in der «quarantine», sagt «hey» aus L. A. ins Netz hinaus, und das sonst so ambivalente Schmachten in ihrer Musik zerfällt plötzlich zu biografischer Banalität: Wenn dies das Ende ist, hilft nur noch ein Boyfriend, um gemeinsam Eis zu essen und fernzusehen.

Die Erfahrung der Enge hinterlässt auch in der Popmusik ihre Spuren. Schon wenige Wochen nach Beginn des Lockdowns erschienen Alben, die von der Frage ausgingen: Musiker:in allein zu Haus, was nun? John Darnielle hätte mit seiner Band The Mountain Goats die Songs für ein Album beieinandergehabt, als Gruppentreffen im Studio nicht mehr schicklich waren. Also produzierte er in zehn Tagen zu Hause «Songs for Pierre Chuvin», ein Indiealbum, wie man das früher gemacht hat: alleine komplett über einen Kassettenrekorder aufgenommen, technische Fehler und spontane Kommentare inklusive. Obwohl sie in einer ganz anderen Soundwelt angesiedelt sind, entstanden die elf Lovesongs auf «How I’m Feeling Now» von Charli XCX (nur zwei Monate nach dem Lockdown erschienen) mit einem ähnlichen Drive: schnell, affektgetrieben, aus dem Schlafzimmer heraus.

Für immer lieben

Ein Genre, das einfache Aufnahmesettings in der eigenen Wohnung, Lo-Fi-Sounds und die Betonung eigener Gefühlswelten zu Prinzipien erklärt, gibt es schon ein paar Jahre länger: Bedroom Pop. Die Pandemie versprach diesem Konzept plötzlich neue Dringlichkeit. Mit «Death Bed» des kanadischen Cloudrappers Powfu, im Februar 2020 gerade noch in der alten Welt erschienen, erlebte der Bedroom Pop seinen ersten Welthit. Und Ariel Pink, der schon vor zwanzig Jahren in seinem Schlafzimmer Musik aufgenommen hatte, sagte zum «Guardian»: «Bedroom Pop ist die Antwort auf das Coronavirus.» Doch wer Pop und angeblich global geteilte Pandemieerfahrungen auf derart äusserliche Weise verdrahtet, wie man das auch bei Lana Del Rey hören kann, wird kaum Bleibendes schaffen.

«How I’m Feeling Now» ist ein wichtiges Popdokument dieser Zeit, weil man darauf gut hören kann, dass sich die Enge nicht auch kreativ und geistig niederschlagen muss. Charli XCX dokumentierte in Posts und Livestreams, wie sie Ideen in einer eigens versammelten Onlinecommunity aus Produzent:innen und Fans sowie per Filesharing austauschte – und erinnerte so daran, dass soziale Distanz im Pop sowieso ein Normalfall ist. Die Musik auf dem Album spielt mit Kitsch und Echtheit im digitalen Raum; manchmal scheint sie auch nachzudenken. In «Forever» schafft Charli XCX es zum Beispiel, gleichzeitig eine unmissverständliche Liebeserklärung an ihren Boyfriend als auch über die Funktionsweise von Pop zu singen: «Wir werden uns in Zukunft nicht mehr sehen, aber ich werde dich für immer lieben.» Die Pandemie machte ja auch wieder bewusst, dass Intimität nicht nur ein zentrales Thema von Pop ist, sondern dieser selber auf die Vermittlung von Intimität angewiesen ist: Wir werden uns nie sehen, Charli, aber wir können dich für immer lieben.

Leben schaffen

Wer dieser Tage über Pop und Intimität nachdenkt, kommt um «Colourgrade», das zweite Album von Tirzah, nicht herum. Mit Charli XCX hat Tirzah nicht nur die britische Herkunft gemeinsam und dass sie Musik in Farben sieht und komponiert, auch sind beide Sängerinnen bei der Arbeit an ihren ambitionierten elektronischen Songs auf enge Bande angewiesen. Bei Tirzah sind das vor allem Produzent:in Mica Levi und der Sänger Coby Sey, mit denen sie enge Freundschaften und eine intuitive Arbeitsweise pflegt. Doch damit nicht genug: Tirzah hat «Colourgrade» zwischen den Geburten ihrer zwei Kinder, also quasi zwischen Tür und Angel eines Familienalltags, aufgenommen. Wenn man will, kann man das auf dem Album auch hören – ein Kritiker und mutmasslicher Vater meinte, in «Sleeping» irgendwo knarrende Dielen auszumachen, die das schlafende Kind wecken könnten.

Was man aus dieser Beschreibung nicht vermuten würde: Die Musik auf diesem Album widersetzt sich konsequent jeder falschen Einkehr und Zuflucht. Sie klingt noch verschobener und gebrochener als auf Tirzahs erstem Album «Devotion» (2018) und erzeugt mit feinen Schattierungen, scheinbaren Beiläufigkeiten und Tirzahs abgespanntem Gesang einen unvergleichlichen Bann. «Beating» heisst ein Stück, das davon handelt, sich zu finden und Leben zu schaffen, und man hört das, als würde dieser Song auch von sich selber handeln. Das Stück wirkt zunächst aufgeräumt: Ein dumpfer Sound pulsiert unter einem spröden Drumloop. Aber bald ist da auch ein Rauschen, das immer mitläuft mit Tirzahs Stimme und diese an den Rändern in den Klang des Hi-Hats übergehen lässt. Alles ist so verbunden mit dieser Stimme, die nun zu irrlichtern beginnt, durch variierende R-’n’-B-Schlaufen oder indem sie einen Echoeffekt mimt – «beating, beating, beating …» Vielleicht fühlt man sich ihr darum so nah, weil sie das Naheliegende stets zu verfehlen scheint.

Wie mutig solche Unschärfen hier im Raum stehen, wird umso deutlicher, wenn man sich andere Produkte aus dem Lockdown anhört. Da waren zum Beispiel Faber, Sophie Hunger und Dino Brandão, die sich im Pandemiesommer in einem ungenutzten Zürcher Kulturraum trafen und Liebeslieder mit Mundarttexten schrieben. «Ich liebe Dich» heisst das Album, das dann pünktlich zu Weihnachten erschien, wenn solche Sachen am besten ziehen. Alle drei schrieben Songs, aber von der Anlage her ist das ein typisches Faber-Album: Die melancholischen Streicher in der «Ouvertüre» suggerieren Bedeutsamkeit, die Gefühlslage der Songtexte bewegt sich zwischen Schmerz, Sentimentalität und Selbstmitleid. Liebe gibt es hier nur als schicksalhafte Verheerung oder als Erlösung – «entweder d’Liebi oder de Tod», wie es einmal heisst. Der Fluchtpunkt dieser Songs ist musikalisch wie inhaltlich eine geradezu klaustrophobische Heimeligkeit.

Ungestört schwelgen

Dazu tragen der gefühlige Gesang und die Mundart viel bei, aber befremdlich werden die Texte vor allem da, wo sie eine lokalpatriotische Enge feiern. «Lueg ned uf zude Stärne, will dän brichsch der s’Gnick», singt Faber einmal, und Sophie Hunger doppelt an anderer Stelle nach: «Wänn du zu mir Ja seisch und ich sägs zu dir / Isch z’Paradis im Chreis vier». Ganz am Schluss des Albums, der Song heisst «Derfi di hebe», bringen die drei – natürlich unisono – das Liebesglück auch noch auf einen verstockten Nationalbegriff: «Derfi di hebe, so richtig lang /Konkordanz, ich la die gah». Das könnte in diesem thematischen Zusammenhang ja sogar lustig sein, aber leider fehlt hier jede Spur von Ironie. Und so wirkt diese ganze Kuschelei, die auch auf den Pressebildern zelebriert wird, vor allem abstossend.

Wenn Intimität vom Zaun her gedacht wird, der sie schützen soll, kippt die Wirkung leicht ins Gegenteil. Dem Wortsinn nach geht es bei Intimität ums Innerste, Geheimste oder Vertrauteste. Meistens verwenden wir das Wort im Sinne einer über den Körper vermittelten Verbindung – das Innerste zeigt sich also durch Offenheit und Durchlässigkeit. Der pathetische Bardenpop von Brandão, Hunger und Faber wirkt in jeglicher Hinsicht hermetisch: im kleinen Glück, das er propagiert, wie in der stieren musikalischen Ordnung, die der Schwelgerei ja nicht in die Quere kommen soll.

Demgegenüber scheinen die Songs auf Tirzahs «Colourgrade» in jedem Moment dafür empfänglich, vom Weg abzukommen. Am Schluss von «Send Me» erschrickt man, wenn eine dröhnende Gitarre plötzlich alles in einen rauschenden Abgrund reisst. Die Formen, auf die sich diese Songs festlegen, wirken immer auch vorläufig, und so ist das Schlüsselstück vielleicht «Crepuscular Rays», in dem Tirzahs wortlose Stimme zu einer minimalen Gitarrenbegleitung durch verschiedene Verfremdungsstufen und intuitive Melodien raunt. Am nächsten ans Kuscheln kommt «Hive Mind», ein Duett mit Coby Sey. Wenn sich diese beiden Stimmen zögerlich abtasten, klingt es so, als würden sie jedes Mal an einer anderen Stelle aufeinandertreffen – undenkbar, so etwas auf einem Pressefoto darzustellen.