Flucht aus Afghanistan: Ausgeschafft und zurückgelassen
Seit drei Monaten sind die Taliban zurück an der Macht, die humanitäre Lage hat sich drastisch verschlechtert. Viele versuchen nach wie vor, das Land zu verlassen. Manche nicht zum ersten Mal.
«Ich versuche weiterhin, von hier wegzukommen», sagt Rahim Ahmadi*. Im vergangenen Februar wurde er von den deutschen Behörden nach Kabul ausgeschafft. In den Monaten davor lebte er versteckt, nachdem sein Asylgesuch abgelehnt worden war. «Ich war mehrere Monate in einem europäischen Nachbarland, weil ich Angst vor der drohenden Ausschaffung hatte. Das war mein einziges Vergehen», so Ahmadi.
Seit seiner Ausschaffung hat der Geflüchtete nicht nur zahlreiche Anschläge sowie die horrende Kriminalität in der afghanischen Hauptstadt erlebt, sondern auch den Abzug der Nato-Truppen sowie die Rückkehr der radikalislamischen Taliban Mitte August. Zu den Tausenden von Afghan:innen, die währenddessen versucht haben, evakuiert zu werden, um das Land zu verlassen, gehörte auch Ahmadi.
Jeden Tag zog er mit seinem vollgepackten Rucksack und seiner Dokumentenmappe zum Flughafen in der Hoffnung, von irgendjemandem mitgenommen zu werden. «Viele Menschen dachten, dass man sie retten würde. Es gab auch viele falsche Gerüchte in den sozialen Medien», meint er. Auch ihm rieten Freund:innen und Bekannte aus Deutschland, am Kabuler Flughafen sein Glück zu versuchen.
Um diesen zu erreichen, musste er nicht nur die Checkpoints der Taliban passieren, sondern auch jene von afghanischen CIA-Milizen und Nato-Soldat:innen. Auch das berüchtigte Söldnerunternehmen Academi, ursprünglich unter dem Namen Blackwater bekannt, war präsent. Berichten zufolge verlangten die Söldner 6500 US-Dollar pro Kopf für Evakuierungen. Ähnlich sollen sich auch afghanische Milizen verhalten haben, die im Anschluss selbst vom US-Militär und der CIA evakuiert wurden. In den letzten Jahren machten sie meist mit Menschenrechtsverbrechen auf sich aufmerksam, etwa in Form von brutalen Razzien oder Bombardements gegen Zivilist:innen.
Sicherheit für die Elite
Ahmadi hatte weder Geld noch andere Mittel, um die Milizen zu schmieren. Die bewaffneten Männer wiesen ihn stets ab. Am 27. August griffen dann Terroristen der afghanischen IS-Zelle den Kabuler Flughafen an und töteten laut Angaben afghanischer Reporter:innen mindestens 200 Afghan:innen und 13 US-Soldat:innen. «Viele Menschen hatten nach dem Anschlag Angst und gingen nicht mehr zum Flughafen», erinnert sich Ahmadi heute. Auch er blieb im Haus jener Familie, bei der er seit seiner Ausschaffung untergekommen ist.
Im Sommer 2015 verliess Ahmadi, damals fünfzehn Jahre alt, Afghanistan. Zuvor war sein Bruder, der für eine ausländische NGO gearbeitet hatte, von Unbekannten, möglicherweise Taliban, ermordet worden. Während vom Krieg Traumatisierte wie Ahmadi heute in Afghanistan verweilen müssen und dem neuen Taliban-Regime ausgeliefert sind, wurden viele Akteur:innen, die für die Eskalation des Krieges mitverantwortlich sind, ausgeflogen.
Das beste Beispiel hierfür ist laut Ahmadi Expräsident Aschraf Ghani, der mitsamt seiner Entourage aus Kabul flüchtete, während die Taliban die Hauptstadt einnahmen. «Ausgerechnet Ghani, der uns vor wenigen Jahren verkauft hat!», sagt Ahmadi. Er spielt damit auf jenen Ausschaffungsdeal an, der im Herbst 2016 zwischen der Europäischen Union und der Ghani-Regierung geschlossen wurde.
Kabul erklärte sich damals bereit, Ausschaffungen zu akzeptieren. Im Gegenzug flossen Millionen von Hilfsgeldern weiterhin in die Taschen korrupter Politiker:innen. Seitdem gehörten Ausschaffungen afghanischer Geflüchteter zum europäischen Alltag. Für jene, die Afghanistan aufgrund von Krieg, Hunger und Verzweiflung verliessen, drückte Ghani seine Verachtung aus. In einem viel beachteten Interview mit dem britischen Sender BBC behauptete der damalige Präsident etwa, dass afghanische Geflüchtete «den Gesellschaftsvertrag brechen» würden. Bereits zum damaligen Zeitpunkt lebten viele Familien der Kabuler Elite im sicheren Ausland, darunter auch Ghanis Kinder, die in den USA aufwuchsen.
Neue Phase des Konflikts
«Die sind alle weg, doch um uns kümmert sich niemand», meint Dschahanseb Naseri. Er wurde im vergangenen Juni aus Österreich ausgeschafft – nach fast zehn Jahren in Innsbruck. Zuletzt hat Naseri bei einer bekannten Fastfoodkette gearbeitet. Asyl wurde ihm nicht gewährt, und sein Schutzstatus wurde ihm wieder entzogen. Er engagierte einen Rechtsanwalt, der sich um alles Weitere kümmern wollte, doch dann machten die Behörden Naseri einen Strich durch die Rechnung. Am Ende sass er in einem Ausschaffungsflieger, der in Wien startete und weitere Geflüchtete aus anderen EU-Ländern einsammelte, bevor er nach Afghanistan flog. In Kabul drückten die österreichischen Beamten Naseri seine afghanische Geburtsurkunde in die Hand, ein abgelaufenes, handgeschriebenes Dokument, das als eine Art Einreisedokument fungieren sollte. Ausgestellt worden war sie von der afghanischen Botschaft in Wien.
Das afghanische Flughafenpersonal lachte anfangs über das Blatt Papier, doch sie liessen Naseri dennoch passieren. «Was dort ablief, war absolut rechtswidrig. Solche Dokumente stellen wir gar nicht aus. Auch Ausschaffungskandidaten müssen persönlich erscheinen, damit wir ihre Identität bestätigen können», erklärte ein Mitarbeiter des afghanischen Konsulats in München, nachdem ihm der Fall vorgelegt worden war. Naseri selbst hatte bis zum Zeitpunkt seiner Ausschaffung die für ihn zuständige Botschaft in Wien kein einziges Mal aufgesucht. Ein Mitarbeiter der afghanischen Botschaft in Wien reagierte gegenüber der WOZ aggressiv und wollte über den Fall keine Auskunft geben (der Anruf fand im Juni kurz nach Naseris Ausschaffung statt).
Ökonomische und humanitäre Krise
Am Tag, an dem die Taliban die afghanische Hauptstadt einnahmen, lag nahe Naseris Elternhaus im Kabuler Distrikt Schakardara ein toter Soldat, der Opfer der Gefechte geworden war. Für Naseri ist klar, dass er in Afghanistan keine Zukunft hat. «Die Situation war bereits zuvor extrem gefährlich. Nun sind die Taliban wieder an der Macht, und es gibt immer noch Anschläge. Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Situation katastrophal ist», sagt Naseri. Wie viele andere Afghan:innen versucht er nun, das Land zu verlassen.
Die neuen Herrscher in Kabul wollen ihre extremistischen Vorstellungen landesweit durchsetzen; dabei stehen sie gegenwärtig vor einer ökonomischen und humanitären Krise, unter der Millionen von Afghan:innen bereits leiden. So ist die gesundheitliche Versorgungslage prekär, da staatliche Kliniken schliessen mussten, und bereits vor einem Monat schlugen Hilfsorganisationen Alarm, dass dem Land eine Hungerkrise drohe. Auch die wirtschaftliche Situation hat seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul ihren Tiefpunkt erreicht – wobei sie allerdings bereits seit Jahren stagniert. Grund hierfür ist auch die Nato-Intervention, die kein nachhaltiges Staatswesen hervorbrachte, sondern eine kurzsichtige, neoliberale Kriegswirtschaft. «Die vorherige Regierung war korrupt. Die Taliban sind inkompetent», kommentiert ein Einwohner Kabuls das Geschehen. Die aktuelle Bargeldknappheit im Land hat zu einem massiven Anstieg der Armut geführt. «Meine Familie würde ohne unsere Hilfe nicht überleben», erzählt Abdul Rahman Sadat, ein Afghane, der in Deutschland lebt. Regelmässig schickt er seiner Familie in Kabul Geld – meist über Western Union oder Moneygram. Die beiden Geldtransferunternehmen zahlen den Empfänger:innen vor Ort allerdings nur begrenzte Beträge aus, aktuell sind es maximal 400 US-Dollar pro Überweisung. «Das ist aber nicht das einzige Problem. Die Angestellten vor Ort verlangen manchmal von den Empfängern einen Teil des Geldes. Ansonsten wird nicht ausgezahlt», berichtet Sadat. Beliebt und besonders notwendig ist deshalb in diesen Tagen auch das Hawala-System, ein informelles Transaktionsnetzwerk, das ausschliesslich mit Bargeld arbeitet
Auch Terroranschläge finden weiterhin statt. Seit der Machtübernahme der Taliban wurden mehrere Moscheen zum Ziel von IS-Anschlägen, die hauptsächlich der schiitischen Bevölkerung galten. Dutzende von Menschen wurden dabei getötet. Genaue Zahlen werden von den Taliban, die die IS-Gefahr herunterspielen, nicht veröffentlicht. Zeitgleich sind die neuen Machthaber damit beschäftigt, jeglichen Dissens zu unterdrücken. Frauenproteste in mehreren Städten wurden mehrfach angegriffen und mit Gewalt aufgelöst. Zahlreiche Journalist:innen und Aktivist:innen haben bereits das Land verlassen oder zensieren sich selbst, um den Extremisten nicht auf die Füsse zu treten.
«Es ist nicht so, dass wir permanent bedroht werden, aber die Selbstzensur ist deutlich gestiegen – gemeinsam mit unseren existenziellen Sorgen», sagt der afghanische Journalist Mohammad Zaman, der unter anderem auch für die WOZ tätig war und weiterhin in seiner Heimatprovinz Chost im Südosten des Landes lebt und arbeitet. Auffallend ist auch der unterschiedliche Umgang mit ausländischen und lokalen Medienmacher:innen seitens der Taliban. Während sich erkennbar westliche Korrespondent:innen frei bewegen dürfen und zum Teil auch hofiert werden, sind afghanische Journalist:innen Drohungen und Angriffen hilflos ausgesetzt. In den letzten Tagen und Wochen ist die Zahl der in die Nachbarländer Geflüchteten stark gestiegen. Die Preise für Visa oder Reisetickets haben sich mittlerweile vervielfacht, während an den Landesgrenzen, etwa jener zu Pakistan, regelmässig Chaos herrscht.
«Auch ich werde wohl nach Pakistan gehen. Von dort aus wird mir vielleicht eine Rückreise nach Deutschland ermöglicht», meint der ausgeschaffte Rahim Ahmadi, der gegenwärtig auf sein pakistanisches Visum wartet. Evakuierungen sind ohnehin nur noch über den Landweg möglich, weshalb auch Ahmadi eine anstrengende Reise bevorsteht. Dass niemand in Europa über die Zukunft ausgeschaffter Afghan:innen spricht, schockiert ihn. «Die EU hat mit der vorherigen Regierung einen Deal abgeschlossen, um unsere Ausschaffung zu ermöglichen. Afghaninnen und Afghanen wurden kollektiv als schlechte Menschen abgestempelt und kriminalisiert. So wurden unsere brutalen Rückführungen auch vor der Gesellschaft gerechtfertigt», meint Ahmadi.
Erneute Flucht als letzter Ausweg
Noch kurz vor der Machtübernahme der Taliban fanden weiterhin Ausschaffungen nach Afghanistan statt – und zwar unter immensem Druck auf die afghanischen Behörden. Eine Quelle, die bis vor kurzem noch im afghanischen Geflüchtetenministerium tätig war, bestätigte etwa, dass sich der deutsche Botschafter persönlich für die Fortführung der Ausschaffungen ausgesprochen hat. Als Grund nannte er die Bundestagswahlen im Herbst. Zeitgleich soll der österreichische Botschafter in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad mit der Schliessung der afghanischen Botschaft in Wien gedroht haben, falls Kabul keine Ausschaffungen mehr akzeptiere.
Auch die Schweiz gehört zu den Staaten, die bei zunehmender Eskalation der Gewalt noch lange an der Möglichkeit festhielten, Menschen gegen ihren Willen nach Afghanistan zurückzuführen. Zwar fanden seit 2019 keine Ausschaffungen nach Kabul mehr statt; trotzdem wartete das Staatssekretariat für Migration bis zum 11. August dieses Jahres, bevor es bekannt gab, bis auf Weiteres keine Ausschaffungen mehr durchzuführen. Dass die Ausschaffungen seit der Rückkehr der Taliban ausgesetzt wurden, hat gewiss nicht nur mit dem guten Willen europäischer Politiker:innen zu tun, sondern auch mit der chaotischen und unübersichtlichen Lage. Der Kabuler Flughafen ist für internationale Flüge weiterhin ausser Betrieb. Bis dieser wieder in Gang gebracht wird, hat man sich in Europa womöglich schon mit den neuen Machthabern arrangiert und unterzeichnet neue Abkommen, die afghanischen Geflüchteten das Leben schwer machen.
* Name aus Sicherheitsgründen geändert.