Nato-Abzug aus Afghanistan: Verschwunden, ohne auch nur ein Wort zu sagen

Nr. 28 –

Während sich die Nato-Truppen nach zwanzig Jahren Besetzung aus Afghanistan zurückziehen, versinkt das Land im Chaos. Trotzdem werden aus Europa noch immer Geflüchtete dorthin abgeschoben.

Muhammad Sahed wirkt nervös, sobald er sich durch den dichten Verkehr von Kabul schlängelt. Staus werden oft von Attentätern genutzt, um «sticky bombs» – Haftbomben – an Autos zu platzieren. Sie wurden in den letzten Monaten zunehmend beliebt, um Intellektuelle, Journalisten, politische Aktivistinnen oder Religionsgelehrte zu ermorden. Die Waffe ist günstig und einfach zu beschaffen. Sahed weiss, dass auch er ein potenzielles Ziel darstellt: Er hat in den letzten Jahren mit Nato-Truppen, allen voran mit der Bundeswehr, zusammengearbeitet. «Ich hoffe, dass ich bald das Land verlassen darf. Menschen wie ich müssen um ihr Leben bangen und sind nirgends sicher, auch auf Kabuls Strassen nicht.»

Sahed, Ende dreissig, ist für eine grosse Telekommunikationsfirma in Kabul tätig. In den letzten zehn Jahren kümmerte er sich auch um die Datenleitungen der Bundeswehr. Seine Arbeit war wichtig, damit die Truppen vor Ort kommunizieren konnten. Das weiss nicht nur Sahed, sondern das wissen auch jene, von denen er sich nun fürchtet. Er und einige seiner Arbeitskollegen haben Drohungen erhalten. Einer wurde getötet.

Während die USA und ihre Verbündeten ihre Truppen aus Afghanistan abziehen, versinkt das Land im Chaos. Seit Mai eroberten die Taliban mehr als hundert Distrikte von der Regierung, damit kontrollieren sie nun rund die Hälfte aller Distrikte. Die meisten der übrigen Distrikte gelten seit Jahren als «umkämpfte Gebiete», sie könnten jederzeit von den Extremisten überrannt werden. Es ist vor allem der Norden des Landes, der den Taliban zunehmend in die Hände fällt. Nach jedem Eroberungszug stellen die Taliban jeweils das erbeutete Kriegsmaterial wie Waffen zur Schau, während ihre Medienleute vor Kameras eingeschüchterte Soldaten präsentieren, die sich ergeben haben. In den letzten Jahren konnten sich die Taliban in den Distrikten rund um grosse Provinzhauptstädte festsetzen. Das gilt etwa für die Provinzen Balch oder Kunduz, deren Hauptstädte bereits 2015 kurzzeitig gefallen waren. Die damaligen Gründe sind nahezu die gleichen wie heute: Sowohl die Provinzregierungen als auch die Sicherheitskräfte gelten als unorganisiert und korrupt; führende Milizionäre haben frühzeitig die Flucht ergriffen; einige bekannte Warlords sollen bereits ausser Landes sein.

«Unsere Gegend wird nun von den Taliban kontrolliert», sagt Muhammad Farsad, der in der Provinz Baglan im Norden Afghanistans lebt. «Sie haben die Checkpoints innerhalb kürzester Zeit überrannt.» Auch die gesamte nördliche Provinz Badachschan wird mittlerweile von den Taliban kontrolliert, Hunderte von Soldaten der afghanischen Armee sind über die Grenze nach Tadschikistan geflüchtet. Aus der Provinzhauptstadt Faizabad flüchteten Lokalpolitiker über den Luftweg, wie auf einem Video zu sehen ist, das über die sozialen Medien verbreitet wurde.

Energydrinks und Müll

Als Reaktion darauf formieren sich nun Bürgermilizen, die den Soldaten zur Seite stehen wollen. Es soll bereits einige Tausend von ihnen geben. «Wir stehen bereit und ergeben uns nicht», sagt ein junger Mann in einem Bericht, der vom staatlichen Nachrichtensender RTA verbreitet wurde. Ob die Milizen, die meist von lokalen Warlords oder dem afghanischen Geheimdienst NDS unterstützt werden, eine realistische Chance gegen die Taliban haben, ist noch unklar. Währenddessen schreitet der Abzug der Nato-Truppen voran. Die deutsche Bundeswehr hat Afghanistan bereits verlassen. Das US-Militär verliess den Militärstützpunkt Bagram, der in den letzten zwanzig Jahren als Zentrale des «War on Terror» fungierte, über Nacht. Die afghanischen Alliierten wurden darüber nicht einmal informiert.

Laut Mir Asadullah Kohistani, dem leitenden General des Stützpunkts, fiel den afghanischen Truppen in Bagram erst mehrere Stunden nach dem Abzug der US-SoldatInnen deren Abwesenheit auf. «Uns erreichte zuerst das Gerücht, dass die Amerikaner Bagram bereits verlassen hätten. Um sieben Uhr morgens wurde uns ihr Abzug bestätigt», so Kohistani. Die Amerikaner hinterliessen zahlreiche Fertigmahlzeiten, Energydrinks, Kriegsgerät sowie einen Haufen Müll, der in den sozialen Medien für Empörung sorgte. Hinzu kommen mindestens 5000 Gefangene, darunter viele Taliban, die im Gefängnis des Stützpunktes sitzen. Kohistani befürchtet, dass ein Angriff der Taliban auf Bagram bevorsteht.

«Situation wird eskalieren»

Auch in der Hauptstadt Kabul könnte sich die Situation spätestens nach dem Abzug der verbliebenen US-Truppen Ende Monat ändern. «Der Zeitpunkt des Abzugs ist wirklich unpassend», sagt Abdul Ghafur, ein NGO-Mitarbeiter aus Kabul. «Die Situation ist bereits sehr gefährlich und wird wohl weiterhin eskalieren.» Er geht davon aus, dass viele Menschen flüchten werden, auch nach Europa. Gleichzeitig schiebt die EU weiterhin afghanische Geflüchtete ab. Aus Deutschland wurden laut Amnesty International allein dieses Jahr 140 Menschen nach Afghanistan ausgeschafft; nach einer Pause will auch die Schweiz nächstens 140 Menschen abschieben. «Während ich hier gelandet bin, wurde mein Dorf von den Taliban überrannt, ausserdem ist es auch in Kabul sehr unsicher», erzählt ein Mann, der anonym bleiben will und kürzlich mit Gewalt aus Österreich abgeschoben wurde.

Die Regierung von Präsident Aschraf Ghani scheint wenig Verständnis für die Sorgen der BürgerInnen zu haben. «Wer Angst hat, soll das Land verlassen, wir bleiben hier», sagte Ghani kürzlich in einer Rede. Sein Sicherheitsberater, Hamdullah Mohib, wiederholte mehrmals, dass die afghanischen Truppen gegen die Taliban bestens gerüstet seien. Ghanis Regierung ist inzwischen bekannt dafür, den Bezug zur Realität verloren zu haben. Allerdings hat sie am Wochenende die europäischen Staaten aufgefordert, in den nächsten drei Monaten keine Menschen nach Afghanistan abzuschieben.

Viele AfghanInnen haben ein Déjà-vu. 1989 verliessen die letzten sowjetischen Truppen nach zehnjähriger Besetzung Afghanistan. Das kommunistische Regime von Muhammad Nadschibullah konnte sich dank Unterstützung aus Moskau drei weitere Jahre halten. Dann nahmen die Mudschaheddin Kabul ein. Ein Bürgerkrieg brach aus und kostete Tausende von AfghanInnen das Leben. Die Taliban kamen an die Macht und errichteten ihr brutales Regime.

Telekomspezialist Sahed wartet auf die Reisepapiere. «Ich hoffe, dass wir endlich aufbrechen können.» Sein Ziel: Stuttgart, wo Verwandte von ihm leben. «Ich möchte, dass meine Töchter zur Schule gehen können, ohne dass sie entführt oder von Bomben oder Terroristen bedroht werden», sagt er.

Sein Plan droht jedoch zu scheitern. «Deutschland will mir womöglich kein Visum geben, weil ich keinen direkten Arbeitsvertrag mit der Bundeswehr hatte; dabei arbeitete ich jeden Tag mit ihnen zusammen», sagt er. Die Unterscheidung, ob jemand von der Bundeswehr angestellt gewesen sei oder für sie Aufträge erledigt habe, sei «an Naivität kaum zu überbieten», kritisiert Thomas Ruttig, Kodirektor der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Den Taliban dürften die Spitzfindigkeiten der deutschen Bürokratie egal sein.