Impfstrategie: Kehrtwende mit engem Fokus
Schon in wenigen Wochen soll der «Booster» für alle kommen. Was im nahenden Winter eine sinnvolle Ergänzungsmassnahme für die Schweiz ist, wirft im globalen Kontext Fragen auf.
Nun ist endgültig klar, dass die dritte Coronaimpfung bald auch für unter 65-Jährige erhältlich sein soll. Das bestätigte Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif), diese Woche vor den Medien. Vor einem Monat hatte er im «Blick» noch gesagt: «Die normale Bevölkerung braucht dieses Jahr sicher keinen Booster.» Was wie eine Kehrtwende wirkt, ist letztlich eine Anpassung der offiziellen Impfstrategie – und Ausdruck davon, dass die Bewältigung der Coronapandemie immer wieder neue Fragen aufwirft.
So ist mittlerweile klar, dass der Impfschutz bei den über 65-Jährigen, von denen viele Anfang dieses Jahres zweimal geimpft wurden, inzwischen nachgelassen hat: von 95 auf 80 Prozent, wie Berger in Bern sagte. Entsprechend zeigten sich im Oktober erstmals mehr Hospitalisierungen geimpfter Personen dieser Altersklasse. Dass diese Bevölkerungsgruppe seit kurzem eine Auffrischimpfung erhalten kann, um vor dem nahenden Winter den Schutz zu erhöhen, ist deshalb sinnvoll.
Prioritäre Erstimpfungen
Bei den unter 65-Jährigen, die eine Grundimmunisierung, also zwei Impfdosen oder eine Dosis und eine durchgemachte Erkrankung, aufweisen, sieht die Lage anders aus. «Hier ist bisher noch keine Abnahme des Schutzes erkennbar», sagt Ekif-Präsident Berger. Diese Bevölkerungsgruppe sei vor schweren Infektionen weiterhin gut geschützt. Die Auffrischimpfung soll in erster Linie «milde Infektionen reduzieren, um so die Verbreitung des Virus einzudämmen respektive das Ansteckungsrisiko zu vermindern». Die Massnahme könne mit dazu beitragen, im Winter, wenn sich die Leute vorwiegend in Innenräumen aufhielten, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern, so Berger. «Und das ist das erklärte Ziel unserer Impfstrategie.»
Lukas Engelberger, Basler Regierungsrat (Die Mitte) und Präsident der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), unterstützt diese Strategie. «Sollte sich zeigen, dass der Impfschutz mit der Zeit auch bei Jüngeren abnimmt, ist es wichtig, parat zu sein und rasch Auffrischimpfungen anbieten zu können.» Engelberger gibt jedoch auch zu bedenken, dass «vor lauter Booster nicht in den Hintergrund rücken sollte, dass das wichtigste Mittel im Kampf gegen das Virus noch immer eine erste Impfung ist».
Die Zulassungsbehörde Swissmedic hat die Auffrischimpfung bisher nur für immungeschwächte und besonders gefährdete Personen freigegeben. Die Verabreichung der dritten Impfung auch an unter 65-Jährige wäre aber trotz der fehlenden Zulassung (Off-Label-Use) erlaubt. «Die Definition der ‹besonders gefährdeten Personen› und die entsprechende Impfstrategie werden von der Ekif festgelegt», schreibt Swissmedic auf Anfrage.
Dringlicher WHO-Appell
Aus einer nationalen gesundheitspolitischen Logik heraus ergibt die anstehende Auffrischimpfung für alle (über zwölf Jahre) durchaus einen gewissen Sinn. Die Pandemie jedoch betrifft den ganzen Globus, und aus einer solchen Perspektive erscheint die Impfstrategie plötzlich in einem anderen Licht.
Letzten Freitag wandte sich Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in einem dringlichen Appell an die Öffentlichkeit: «Es ergibt keinen Sinn, gesunden Erwachsenen Auffrischimpfungen zu verabreichen, wenn Gesundheitspersonal, ältere Menschen und andere Hochrisikogruppen in der ganzen Welt noch immer auf ihre erste Dosis warten.» Jeden Tag würden weltweit sechsmal mehr Auffrischimpfungen verabreicht als Erstimpfungen in einkommensschwachen Ländern, so Ghebreyesus. Und die Länder mit der höchsten Durchimpfungsrate würden ihre Impfstoffvorräte weiter aufstocken. «Dies ist ein Skandal, der jetzt beendet werden muss.»
Die WOZ hat sowohl Berger (Ekif) wie auch Engelberger (GDK) auf den Appell des WHO-Generaldirektors angesprochen, woraufhin beide entgegneten, sie könnten dieser Argumentation folgen, doch letztlich bestehe ihre Aufgabe in erster Linie darin, eine Überlastung des hiesigen Gesundheitswesens zu verhindern. Berger ergänzt jedoch: «Meiner Meinung nach sollten überschüssige Impfdosen tatsächlich an die Länder des Globalen Südens gespendet werden, sobald alle Impfwilligen eine Grundimmunisierung sowie eine Booster-Impfung erhalten haben.»
Stützt man sich auf offizielle Zahlen, so wird die Schweiz bis Ende 2022 mehr als zehn Millionen überzählige Impfdosen von Moderna und Pfizer/Biontech haben. Gemäss WOZ-Recherchen ist es zudem wahrscheinlich, dass die – immer noch geheimen – Verträge mit den Pharmafirmen Impfstoffspenden an die Covax-Initiative der WHO, die für eine weltweit gerechte Verteilung sorgen soll, behindern könnten (siehe WOZ Nr. 45/2021 ). Die Politik gibt sich bisher ohnmächtig. Doch nun könnte Bewegung in die Thematik kommen. Die Berner SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen hat aufgrund der WOZ-Berichterstattung eine Motion in der nationalrätlichen Gesundheitskommission eingereicht. Darin fordert sie, «dass die Schweiz überzählige Dosen an Covax spendet». Bereits am Erscheinungstag dieser WOZ ist die Motion in der Kommission traktandiert.