Literatur: Erzählen wie vor 200 Jahren

Nr. 48 –

Die alte Garde der deutschsprachigen Kritik feiert den neuen Roman von US-Autor Jonathan Franzen als Meisterstück, die jüngere Generation ist unbeeindruckt. In der «taz» markierte etwa der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen seinen Überdruss mit der «Fabulierlust» seines Namensvetters: «Alles wird ausbuchstabiert.» Nach «Die Korrekturen» und «Freiheit» legt Franzen einen weiteren «grossen amerikanischen Roman» vor. Der Titel «Crossroads» verweist auf metaphorische und konkrete Kreuzungen, aber auch auf eine Jugendgruppe, in der während der 1970er Jahre mit Umarmungen und wortreichen Selbsterforschungen eine neue Art des Zusammenlebens erprobt wird.

Im Fokus steht die Familie Hildebrandt aus New Prospect, einem fiktiven Vorort von Chicago. Das männliche Oberhaupt ist Pastor und in Ungnade gefallener Crossroads-Betreuer, der weibliche Kopf der Familie ist gerade dabei, ihre nicht eben pastorale Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Persönlichkeiten der vier Kinder streben in alle Himmelsrichtungen: Drogen und Wahnsinn, Liebe und Erleuchtung, freiwilliger Soldat und Erntehelfer, nur der Jüngste ist vorläufig einfach ein aufgeweckter Teenie. Generationenkonflikte eskalieren an allen Fronten, und manch weitere scharfe Kante tritt in und zwischen diesen trostlosen Menschen hervor.

Die epische Familiensaga liest sich süffig, wie eine Kreuzung aus Jeremias Gotthelf und HBO-Serie. Die Kapitel brechen oft im spannendsten Moment ab, auch mit dem letzten Satz des Buchs lässt Franzen uns in der Luft hängen. Die Auf‌lösung folgt dann wohl im nächsten Teil der geplanten Trilogie. Für deren Untertitel hat er sich bei George Eliots Überroman «Middlemarch» bedient. Diesen selbstgesuchten Vergleich besteht Franzen nicht. Während Eliot das ungemein facettenreiche politische Sittenbild einer Epoche durchs Brennglas einer Dorfgemeinschaft zeichnet, bleiben Franzens Figuren weitgehend selbstbezogen. Jede gesellschaftliche Dimension verdampft hinter ihren wahrlich erschöpfend ausbuchstabierten Persönlichkeiten.

Jonathan Franzen: Crossroads. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Hamburg 2021. Rowohlt Verlag. 832 Seiten. 40 Franken