H. P. Lovecraft: Der Reiseführer für die Welt nach dem Anthropozän
Die neue HBO-Serie «Lovecraft Country» versucht, den rassistisch scheinenden Horror von H. P. Lovecraft mit Black Culture zu zersetzen. Kann das gut gehen? Und wieso lohnt es sich heute mehr denn je, Lovecraft zu lesen?
«I am Providence» steht auf dem Grabstein des US-Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft. Es ist ein Zitat aus einem der 100 000 Briefe, die er in seinem nur gerade 46 Jahre langen Leben geschrieben hat, neben seinen Novellen, Kurzgeschichten und Gedichten.
Die Zeile im Brief sollte seine Heimatverbundenheit ausdrücken, die enge Beziehung zu jener Stadt, in der er 1890 geboren wurde und 1937 auch sterben sollte: Providence in New England. Weil aber der Name der Stadt ja wörtlich «Vorsehung» bedeutet, ist die Grabinschrift unweigerlich auch als ominöse Prophezeiung lesbar: «Ich bin die Vorsehung.» Hat sich Lovecraft in seinen Horrorgeschichten bereits ausgemalt, was uns die Zukunft bringen wird?
Land des Schreckens
Über achtzig Jahre nach seinem Tod scheint Lovecraft tatsächlich aktueller denn je, darauf deutet nur schon seine popkulturelle Omnipräsenz hin. Seine «Weird Fiction», diese besondere Mixtur aus tentakelbestückten Wesen der Vorzeit und kosmischen Seuchen der Zukunft, liefert nicht nur die Vorlage für Kinofilme wie zuletzt «Color Out of Space» (2019) mit Nicolas Cage, sie wabert auch als implizite Inspiration über Ridley Scotts «Alien»-Saga oder den Filmen von Guillermo del Toro, der noch immer davon träumt, endlich auch eine reguläre Lovecraft-Verfilmung zu machen, aber auch durch die Comics von Alan Moore oder das Rollenspiel «Dungeons & Dragons» mit all seinen Computergame-Nachfahren. Wer Lovecraft kennt, sieht seinen Einfluss bald überall. Gefiltert durch die Popkultur der achtziger Jahre, die sich exzessiv bei ihm bediente, ist Lovecraft nicht zuletzt auch der Stoff, aus dem der Netflix-Hit «Stranger Things» gemacht ist.
Und nun also die HBO-Serie «Lovecraft Country», die, wie der Titel schon sagt, ganz explizit das Einflussgebiet des Schriftstellers aufsucht, freilich auch, um dieses Territorium neu zu kartografieren. Dabei bedient sie sich nicht bloss einmal mehr im Inventar von Lovecrafts Geschichten. Wie schon in der Buchvorlage von Matt Ruff geht es in der Serie darum, Lovecrafts Horror historisch umzulagern: Statt zu Anfang des 20. Jahrhunderts spielt «Lovecraft Country» im rassengetrennten Amerika der fünfziger Jahre und erzählt die Geschichte des jungen Schwarzen Atticus Freeman (Jonathan Majors), Veteran des Koreakriegs und begeisterter Leser von Science-Fiction-Geschichten, wie sie Lovecraft geschrieben hat, auf der Suche nach seinem unter mysteriösen Umständen verschwundenen Vater. Begleitet wird er dabei von seiner Freundin Letitia Lewis (Jurnee Smollett) und seinem Onkel George (Courtney B. Vance), der am sogenannten «Green Book» arbeitet, jenem Reiseführer für Schwarze, der die für sie sicheren Routen durchs Amerika der diskriminierenden Jim-Crow-Gesetze auflistete. Dass George alsbald auch schleimige Vieläuger und gefrässige Oktopuswesen auf seinen Karten wird eintragen müssen, versteht sich von selbst.
Tatsächlich aber stammen die Monster, denen das Trio auf seinem Trip durch Amerika begegnet, nur teilweise aus Lovecrafts Geschichten; sie entpuppen sich vor allem als Verkörperung ebenjener Dämonen, die die Vereinigten Staaten ganz real beherrschen. Wenn in der wohl unheimlichsten Szene der ersten Episode ein Polizist dem Trio erklärt, sie würden sich in einem sogenannten Sundown-Gebiet befinden, das Schwarze nur bei Tag durchqueren dürfen, wo sie ab Sonnenuntergang jedoch verfolgt werden, dann klingt das wie aus einer Horrorgeschichte über Vampire, die erst nachts angreifen – dabei ist es grausige Wahrheit: Was der Polizist erzählt, stand vor manchen Städten nicht nur des amerikanischen Südens bis in die sechziger Jahre auf Schildern zu lesen.
Lovecrafts Land des Schreckens, so wird einem spätestens jetzt klar, ist nichts anderes als bloss ein anderer Name für die Vereinigten Staaten. Und wenn nach der Polizei mit ihrer Lynchjustiz schliesslich doch Lovecrafts Shoggoth-Monster in der nächtlichen Landschaft auftauchen, empfindet man das geradezu als Erleichterung. Die Attacken von imaginierten Wesen aus den Horrorstorys sind besser zu ertragen als die andauernde Gewalt des US-amerikanischen Systems. Dass die Schwarzen aus diesen Gefechten mit den Unterdrückern nicht als Opfer, sondern als siegreiche HeldInnen hervorgehen, ist eine weitere willkommene, dringend nötige Umkehrung des gewohnten Narrativs.
«Lovecraft Country» vollzieht somit eine doppelte Verschiebung: Zum einen wird ein scheinbar hermetisches Horroruniversum der Jahrhundertwende zeitlich nach vorne katapultiert und auf konkrete soziale Verhältnisse der fünfziger Jahre bezogen, zum anderen will die Serie auch die Populärliteratur der Weissen umschreiben, indem sie nun jene zu den Hauptfiguren macht, die vorher aus diesen Geschichten systematisch ausgeschlossen worden waren. Dass es dabei ausgerechnet Lovecrafts Geschichten sind, die einer solchen antirassistischen Umschrift unterzogen werden sollen, ist freilich kein Zufall. «Stories are like people – loving them doesn’t make them perfect», sagt Atticus Freeman zu Beginn von «Lovecraft Country» und meint damit auch die mitunter problematischen Storys des im Serientitel genannten Autors.
Tatsächlich finden sich in Lovecrafts Geschichten immer wieder auch seine eigenen rassistischen Vorurteile – dokumentiert sind diese etwa in seinen frühen Briefen aus Brooklyn, wo er die ImmigrantInnen in New York mit ebenjenen Begriffen beschreibt, die er sonst für seine Monster reserviert. Und es ist derselbe aggressive Hass gegen alles Fremdländische, dem er auch in seiner Erzählung «The Horror at Red Hook» (1925) die Zügel schiessen lässt. Seine spätere Kurzgeschichte «The Shadow over Innsmouth» (1931) schliesslich, in der ein reisender Student in einem fiktiven Küstenstädtchen in New England entdeckt, dass dessen abstossend aussehende Bevölkerung aus der Verbindung von Menschen mit urzeitlichen Fischwesen entstanden ist, lässt sich ohne Mühe auch als Allegorie rassistischer Reinheitsfantasien lesen und als Verteidigung jener Gesetze, die die Heirat zwischen Schwarzen und Weissen unter Strafe stellten. Umso bemerkenswerter freilich, dass sich am Ende von «The Shadow over Innsmouth» auch der Erzähler selbst als eines jener Hybridwesen erkennt, gegen die er sich zuvor noch wehrte.
Das Erbe Lovecrafts ist also auch ein vergiftetes, und das erklärt auch die Dringlichkeit von neueren Büchern wie «Winter Tide» (2017) von Ruthanna Emrys, «The Ballad of Black Tom» (2016) von Victor LaValle, «The City We Became» (2020) von N. K. Jemisin oder eben «Lovecraft Country» (2016) von Matt Ruff – lauter Romane und Novellen, die sich Lovecrafts Figuren aus einer dezidiert antirassistischen und antisexistischen Perspektive aneignen.
Der Mensch ist kein Massstab mehr
Trotzdem wäre es zu einfach, Lovecrafts Texte allein als Resultat seiner Fremdenfeindlichkeit und Misogynie verstehen zu wollen, wie dies beispielsweise Michel Houellebecq in seinem Essay über Lovecraft vorgeschlagen hat. Offenbar aufgrund mangelnder Kenntnis von Biografie und Gesamtwerk wird bei einer solchen eingeschränkten Sichtweise nicht nur der erstaunliche Gesinnungswandel des Autors unterschlagen, der in späteren Briefen seinen früheren Ansichten abschwor und sich vom Monarchisten, der die USA lieber als Teil Grossbritanniens gesehen hätte, zum Sozialisten und Antikapitalisten wandelte. Vor allem droht man dabei zu übersehen, wie ambivalent die Erzählungen Lovecrafts selber sind. Wären sie tatsächlich nur als Horrorstorys verkleidete Traktate zur Verteidigung weisser Vorherrschaft, wäre auch mit einer noch so vehementen Relektüre kaum mehr viel zu gewinnen.
Was Lovecraft stattdessen so faszinierend und heute umso relevanter macht, ist vielmehr gerade die Tatsache, dass sich das von ihm imaginierte literarische Universum nicht mehr vollständig in den Zeitgeist zurückübersetzen lässt. Historisch gewachsene Konzepte wie Rasse oder Geschlecht greifen gar nicht mehr als gültige Parameter, um die Welt, wie sie uns Lovecraft beschreibt, noch verstehen zu können. Der Mensch und seine Geschichte hören auf, relevanter Massstab zu sein. Wenn in Lovecrafts wohl berühmtester Erzählung, «At the Mountains of Madness» (1931), der Geologe mit seinem Studenten jenes Gebirge überfliegt, vor dem bislang jede Expedition hatte haltmachen müssen, dann entpuppen sich die Berge alsbald nur wieder als blosser Aussenwall einer riesigen Stadt mit Gebäuden, die gemäss einer uns unbekannten Geometrie gebaut worden sind, für Lebewesen, von denen wir keine Vorstellung haben können. So, wie sich im Verlauf der Erzählung die Grössenskalierungen verschieben, erkennt sich der Mensch als blosses Partikel in einer Welt, die uns nur deswegen unsichtbar scheint, weil sie unseren Wahrnehmungshorizont überall übersteigt.
In Wahrheit sind es nicht wir, die das Universum beherrschen, sondern Wesen mit unaussprechlichen Namen jenseits der uns vertrauten Dimensionen – der Mensch ist höchstens ein temporärer und grösstenteils unbedeutender Mitbewohner. Statt von Fremdenfeindlichkeit, die ja nur dazu dient, durch die Abwertung der anderen sich selbst als vorrangig zu behaupten, erzählt Lovecraft eigentlich von einer universalen Menschenfeindlichkeit, oder genauer: von einer kosmischen Indifferenz. Zwischen Pilzsporen, die durchs All wandern, und Amphibienwesen, die aus dem Untergrund wiederkehren, macht es keinen Unterschied, ob die Menschen existieren oder nicht.
Es ist diese Indifferenz, die uns als Lesende schaudern lässt und die zugleich doch so irritierend zu jenen Bedrohungen passt, mit denen wir uns immer wieder und gerade auch aktuell konfrontiert sehen. Der Klimakollaps, der nicht mehr individuell und von Nationalstaaten verhindert werden kann, sondern nur noch im globalen Massstab, oder die Geschwindigkeit, mit der ein Virus sich rund um die Erde ausbreitet und auf unberechenbare Weise die einen tötet und die anderen verschont – von solchen und noch viel weiter reichenden Verlusten an individueller Handlungsfähigkeit erzählt Lovecraft auf jeder Seite. Für die Welt nach dem Anthropozän hat Lovecraft den Reiseführer geschrieben.
Zugleich aber steckt in Lovecrafts Verschiebung der Dimensionen nicht nur ein erschreckend dystopisches, sondern auch ein emanzipatorisches Potenzial: Lesend kann man bei ihm lernen, dass die eigenen, kulturell eingeübten Denkmuster womöglich nur inadäquate Behelfslösungen angesichts einer sehr viel weniger eindeutigen Umwelt sind. Für die feministische Philosophin Patricia MacCormack beispielsweise ist Lovecraft gerade nicht der Nihilist, als der dieser sich selber vielleicht gesehen hat. Stattdessen gelte es, seine Geschichten als eine kosmische Ethik zu lesen, die anstelle von identitären Zuschreibungen, binären Gegensätzen und traditionellen Hierarchien ein Universum der Vielheiten und queeren Existenzweisen zeichnet. Ähnlich euphorisch hatten vor ihr schon die beiden Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihren Büchern Lovecraft gelesen: als einen Denker gegen den Terror der eindeutigen Unterscheidungen und für die Möglichkeiten eines nie zum Abschluss kommenden Werdens. «Wie kindisch und limitiert ist doch die Vorstellung einer dreidimensionalen Welt», so heisst es in Lovecrafts «Through the Gates of the Silver Key» (1932), «und was für eine Unendlichkeit von Richtungen es neben den uns bekannten Richtungen oben-unten, vorwärts-rückwärts, links-rechts noch gibt.»
Diese Erweiterung der Vorstellungsdimensionen zeigt sich bei Lovecraft nicht nur in seinen Geschichten voller Zeit- und Raumparadoxien, sondern auch und vor allem in seinem aussergewöhnlichen Schreibstil. Wenn er seine Geschichten aus einer buchstäblich unmöglichen Perspektive, sozusagen aus einer Zwischenwelt hinaus erzählen muss, damit er gleichzeitig einen menschlichen und nicht-menschlichen Blick einnehmen kann, dann sind auch seine Beschreibungen selbst immer kuriose Mischformen, in denen sich die Unterscheidungen auflösen. Nicht umsonst gehören verwesende Körper bei Lovecraft zu den beliebtesten Motiven, denn die Verwesung ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der merkwürdig zwischen den Gegensätzen changiert, zwischen lebend und tot, fest und flüssig: Was verwest, ist gestorben, entwickelt aber gerade in diesem Sterben eine schillernde Aktivität. Und so wie die verwesenden Körper von Menschen und Fabeltieren ineinanderfliessen, so fliesst auch in Lovecrafts Sprache das Konkrete mit dem Abstrakten zusammen.
Überall hervorquellende Augen
Auch darum tragen Lovecrafts Gestalten Namen wie Cthulhu oder Yog-Sothoth, die sich zwar schreiben, nicht aber korrekt aussprechen lassen. Und wenn letzteres Wesen in «The Dunwich Horror» (1928) von einem Augenzeugen beschrieben wird, ist dessen Schilderung zugleich überpräzise und vage: Das Wesen, das dem stammelnden Mann zufolge nur aus sich windenden Fäden besteht, aber zugleich wie ein Ei aussehe, mit Beinen wie Fässer, mit überall hervorquellenden Augen, Mündern und Rüsseln, wie Ofenrohre, die sich öffnen und schliessen, ganz grau, mit blauen oder violetten Ringen – dieses Wesen wird, je genauer es beschrieben wird, paradoxerweise dadurch immer weniger gut vorstellbar. Wo Schriftsteller wie Franz Kafka oder Samuel Beckett eine Atmosphäre der unheimlichen Uneindeutigkeit schufen, indem sie ihre Sprache immer mehr reduzierten und vereinfachten, gelang das Lovecraft ebenso meisterhaft durch einen Exzess an inkompatiblen Beschreibungen. Nicht in den grossen Weltentwürfen liegt seine eigentliche und bis heute unerreichte Leistung, sondern hier, in der Mikrostruktur seiner Texte, in den Sätzen, die wie Pilzgeflechte wuchern.
Nicht zuletzt gelingt Lovecraft mit seiner Sprache etwas, woran jede Verfilmung unweigerlich scheitern muss. Denn im Gegensatz zu den unvereinbaren, auseinanderklaffenden Details seiner Beschreibung bildet jedes Filmmonstrum spätestens dann eine visuelle Einheit, wenn man es ins Bild setzt. Wer Lovecrafts zerfaserte Sprachgebilde auf einen Blick zu sehen geben will, macht sie greifbar und entschärft sie damit. Das ist das Problem aller Lovecraft-Verfilmungen.
Auch «Lovecraft Country» ist dazu kein adäquates Verfahren eingefallen. Die Serie zeigt die Monster als per Computerdesign erstellte Fabrikate, die aussehen wie die Monster in allen Filmen. Und so bleibt denn auch «Lovecraft Country» doch ein alles in allem viel zu biederer Grusel, der sich allzu wohlig an unsere Sehgewohnheiten anschmiegt. Der Koproduzent der Serie, Jordan Peele, hatte in seinem Film «Get Out» (2017) ein ebenso verstörendes wie analytisch präzises Bild der Gegenwart geliefert, indem er den Rassismus, der sich hinter liberaler Fassade verbirgt, in eine Horrorstory übersetzte. Doch anders als dort fällt es in «Lovecraft Country» allzu leicht, sich nicht ertappt zu fühlen. Man wird das ungute Gefühl nicht los, dass die allzu plakativen Sinnbilder, mit denen die Serie den Rassismus der fünfziger Jahre zeigt, vor allem der Beruhigung dienen. Wenn über einer Gruppe von Schwarzen, die auf den Bus warten, eine Werbung prangt, die den Luxus des eigenen Autos anpreist, natürlich mit einer ausschliesslich weissen Familie im Wagen, ist die Kritik allzu platt. Man ahnt schon, wie sich das bildungsbürgerliche Serienpublikum in solchen Momenten zufrieden zurücklehnt, weil es sich so erhaben aufgeklärt fühlt.
In der zweiten Episode werden die modebewusste Letitia und der Intellektuelle George im Anwesen früherer Sklavenhalter dadurch ruhig gestellt, dass man ihnen luxuriöse Kleider und eine grandiose Bibliothek zur Verfügung stellt. Die Serie selber indes funktioniert leider ähnlich: Sie liefert uns Looks und Zitate, aber wenig Beunruhigung. Denn dafür müsste «Lovecraft Country» schlicht experimenteller und riskanter sein. Und so, wie Lovecrafts Texte sich selbst formal zersetzen, müsste wohl auch eine audiovisuelle Übersetzung so gemacht sein, dass sie sich im Erzählen selbst auflöst.
Schimmelgeflechte, Lichtreflexe
Am besten schaut man sich dafür die Arbeiten des New Yorker Künstlers Bill Morrison an, der die von Alter und Säure zerfressenen Nitratfilmrollen aus vergessenen Archiven zu Experimentalfilmen zusammenfügt. Dabei bezieht sich Morrison gar nicht explizit auf Lovecraft und kommt diesem doch näher als irgendetwas in der Filmgeschichte. Staunend sehen wir zu, wie die Personen in alten Stummfilmen überwuchert werden von Kristallen und hinweggerafft im aufquellenden, sich verformenden, verwesenden Filmmaterial. Und unser Auge, das sonst in Filmen immer nach menschlichen Figuren Ausschau hält, gewöhnt sich allmählich daran, seine Aufmerksamkeit auf andere Formen der Existenz zu richten: Schimmelgeflechte, Lichtreflexe, die Textur des Filmmaterials selbst, das sich andauernd verwandelt. Verstörend ist das anzusehen und zugleich ziemlich begeisternd – Wiederkehr der Bilder aus der Urzeit und zugleich Zukunftsvision dessen, was an Vielfältigkeit sein wird, auch wenn wir längst nicht mehr sind.
Die HBO-Serie «Lovecraft Country» läuft bei Sky. Der Grossteil von H. P. Lovecrafts Erzählungen ist auf Deutsch in einer kommentierten Werkausgabe von 900 Seiten Umfang beim S.-Fischer-Verlag erschienen (2017).
Johannes Binotto
Der Kultur- und Medienwissenschaftler Johannes Binotto (43) hat in seinem Buch «Tat/Ort. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur» (Zürich 2013) unter anderem über das Unheimliche bei H. P. Lovecraft gearbeitet.
Zur weiteren Lektüre empfiehlt Binotto den englischen Sammelband «The Age of Lovecraft», herausgegeben von Carl H. Sederholm und Jeffrey A. Weinstock (Minneapolis 2016).