Kulturgeschichte: «Lärm war auch eine Waffe der Armen»

Nr. 15 –

Kai-Ove Kessler untersucht in einem Buch, wie laut unsere Welt ist: vom Urknall bis zu den Beschwerdebriefen Goethes über eine Kegelbahn und die Erfindung der Ohropax.

Symbolbild: ein Bauarbeiter arbeitet mit einem Presslufthammer
Zum Beispiel Presslufthammer: Wenn es laut ist, ist wohl mal wieder das Proletariat am Werk.  Foto: Mel Stoutsenberger, Alamy

WOZ: Herr Kessler, regen Sie sich über Nachbarn auf, wenn diese Krach machen?

Kai-Ove Kessler: Ich wohne in Hamburg recht ruhig, Lärm fand ich schon immer störend. Besonders Geräusche, von denen man nicht weiss, warum sie plötzlich auftauchen – wie bellende Hunde. Andererseits lebe ich seit dreissig Jahren mit einem Tinnitus, einer Berufskrankheit vieler Musiker. Der Tinnitus warnt mich, wenn der Stress zu viel ist. Dann wird er lauter, das ist für mich ein Signal, kürzerzutreten.

Es gibt keine messbaren Aufzeichnungen, wie die Welt früher geklungen hat. Wie schwierig war die Recherche für Ihr Buch?

Wir haben von vielem eine falsche Vorstellung. Der Urknall war eine stille Angelegenheit, weil es noch keinen Raum gab, in dem sich der Schall hätte ausbreiten können. Im perfekten Vakuum war es mucksmäuschenstill. Auch Dinosaurier haben nicht gebrüllt wie in Hollywoodfilmen. Forschende sind der Meinung, dass ein Tyrannosaurus Rex wie ein riesiger Vogel geklungen hat. Der Paläontologe Eberhard Frey fand die Vorstellung amüsant, dass er wie ein Gockel gekräht hat. Vielleicht gurrte er aber auch wie eine monströse Taube. Gleichzeitig gab es schon im antiken Rom unglaublich viele Quellen dafür, wie laut es gewesen sein muss. Philosophen wie Seneca und Horaz haben sich ständig über Lärm beschwert.

Der Lärmforscher

Kai-Ove Kessler (61) ist Journalist, Historiker und Schlagzeuger in einer Hardrockband. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er als Redaktor beim Norddeutschen Rundfunk, und fast genauso lange hat er zur Geschichte des Lärms recherchiert – vom Urknall bis in die Gegenwart.

Was hörte der Mensch, wenn er durch eine mittelalterliche Stadt spazierte? Der Begriff «Lärm» tauchte in der frühen Neuzeit auf, bedeutete damals aber Aufregung, Gefahr und Tumult. Der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe wollte sich gegen Lärm abhärten – und suchte regelmässig die Nähe der Strassburger Militärkapelle. Heinrich Heine verfügte, am Montmartre-Friedhof begraben zu werden, weil es dort so ruhig sei. Wolfgang Amadeus Mozart wiederum fand Lärm inspirierend. Gemäss Aussagen von Zeitgenossen war er ein lauter Mensch, den man nicht gern als Nachbarn hatte.

«Auch Musik ist Lärm», schreibt der Musiker Kessler im Vorwort zu «Die Welt ist laut»: «natürlich nur physikalisch». Die Idee zu einer Geschichte des Lärms hatte er, als er im Gymnasium zwei Gemälde von Adolph von Menzel analysieren sollte – «Flötenkonzert in Sanssouci» und ein Industriebild.

Kai-Ove Kessler
Kai-Ove Kessler Foto: Maiken Nielsen

Künstlerinnen und Intellektuelle litten quer durch die Jahrhunderte unter Lärm. Johann Wolfgang von Goethe verfasste wegen einer Kegelbahn Beschwerdebriefe, Immanuel Kant soll den Hahn des Nachbarn gekauft und getötet haben. Von Zeitgenossen wurden sie meist als «Sensibelchen» belächelt.

Das Hauptproblem aller Lärmleidenden war, dass es sehr lange als Luxusproblem betrachtet wurde. Die Lärmbekämpfung, wie wir sie heute kennen, konnte erst in Gang kommen, als die Schädlichkeit des Lärms von der Medizin, der Politik und der Wirtschaft anerkannt wurde. Die Wirtschaft hat sich jahrhundertelang gar nicht darum gekümmert, wie Lärm auf Beschäftigte wirkt.

Lärm war also schon immer ein Klassenproblem?

Die Intellektuellen zeigten wenig Solidarität. Sie beschwerten sich, wie laut es in ihrem eigenen Haus war. Dass die Arbeiter noch viel stärker von Lärm betroffen waren, hat sie nicht interessiert. Lärm konnte aber auch eine Form von Protest sein. Die Unterprivilegierten der frühen Neuzeit merkten, dass sie mit Lärmverhalten die Besitzenden nerven konnten. Sie setzten Krach als Waffe ein. Die Strassenmusikanten spielten in London so lange vor den Häusern, bis sie bezahlt wurden. Sie wollten nicht unterhalten, sondern stören. Sie erpressten die Besitzenden mit ihrem Lärm.

Sie beschreiben Lärm auch als Kriegstaktik.

Krieg ist auch Gewalt in akustischer Form, angsteinflössend, traumatisierend, aber auch aufputschend und fanatisierend. Soldaten trugen eisenbenagelte Sohlen und metallbeschlagene Gürtel, die beim Marschieren rasselten. Germanische Stämme setzten auf ein Summen, das sich zu einem Brüllen steigerte. Es gibt heute sogenannte Schallkanonen, die von der US-Armee als Waffe eingesetzt werden. Durch die US-Gefangenenlager in Afghanistan und im Irak kam erstmals an die Öffentlichkeit, wie mit lauter Musik, aber auch mit Stille gefoltert wird. Aber auch die biblischen Gottesbeweise waren sehr laut; in der Bibel geht das Bestrafen meist mit wildem Krach einher.

Was hat sich verändert, seit man Lärm konkret messen kann?

In den 1920er Jahren einigte sich die Wissenschaft darauf, Lärm in Dezibel zu messen – das war ein riesiger Fortschritt. Bis dahin war Lärm komplett subjektiv. Menschen, die sich beschwerten, wurden als verzärtelt und überempfindlich abgestempelt – und als «Weicheier» dargestellt.

Sie beschreiben auch den Beginn der Antilärmbewegung. Damals entstanden Zeitschriften wie «Der Anti-Rüpel» oder «Recht auf Stille».

Ende des 19. Jahrhunderts war London die grösste und lauteste Stadt der Welt. Handwerk und Industrie befanden sich mitten in Wohngebieten, es herrschte eine Lautstärke, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Da begannen die Bessergestellten, sich dagegen zu wehren. Aber auch in Deutschland versuchte der Philosoph Theodor Lessing, eine Antilärmbewegung auf die Beine zu stellen. Wie der Titel seiner Zeitschrift «Der Anti-Rüpel» bereits verdeutlicht, handelte es sich um einen Klub von Intellektuellen, der das Proletariat für den Lärm verantwortlich machte anstatt die Unternehmer. Daran kann man sehen, wie selbstbezogen die erste Lärmkritik war. Deshalb hatte sie auch keine Chancen.

Wann wurden eigentlich Ohrenstöpsel erfunden?

Der Berliner Apotheker Maximilian Negwer verkaufte die ersten Wachskügelchen 1908 für den Preis von heute ungefähr sechs Euro. Das Militär erstand unzählige dieser weichen Kugeln im Ersten Weltkrieg, um die Ohren der Soldaten in den Schützengräben zu schonen. Aber auch der Schriftsteller Franz Kafka war ein treuer Kunde, er schreibt am 23. Juli 1922 in einem Brief an einen Freund: «Ohne Ohropax bei Tag und Nacht ginge es gar nicht.» Noch heute vertreibt die inzwischen in Hessen ansässige Firma rund 30 Millionen Packungen pro Jahr.

Wann wurde erkannt, dass Lärm zu psychischen und physischen Schäden bei den Betroffenen führt?

Schon in der Antike betonten Autoren, dass sie nervlich am Ende seien. Die Menschen wussten, dass Lärm sie nervös macht, dass er auf die Psyche schlägt. Aber erst im 18. Jahrhundert haben Ärzte angefangen, sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen. Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff «Neurasthenie» geprägt, eine Art Burn-out, bei dem es um Erschöpfung und Ermüdung durch äussere Reize geht. Die ersten Ohrenärzte untersuchten, wie Menschen durch starken Lärm taub wurden. Dass Lärm auch Krebs begünstigen, eventuell auch Demenz fördern kann, sind relativ neue Erkenntnisse, die erst in den letzten Jahrzehnten gewonnen wurden.

Sie stellen sich die hypothetische Frage, was die lauteste Epoche der Geschichte gewesen sei, und kommen zu dem Schluss, dass es in den 1960er und 1970er Jahren am schlimmsten war. Warum?

Es gab mehrere Lärmpeaks. Ein erster Höhepunkt war sicherlich die industrielle Revolution, als Dampfmaschinen, Web- und Spinnapparate zum Einsatz kamen. Das kann man höchstens nachvollziehen, wenn man heute nach Bangladesch fährt und in einer Textilfabrik die Lärmbelastung misst. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Ära des Automobils, das vorher nur ein Spielzeug für Reiche gewesen war. Bis in die 1970er Jahre gab es kaum Schalldämmung, die Wohnungen und die Arbeitsplätze waren auf dem technischen Stand der Vorkriegszeit.

Gibt es konkrete Belege, wie das damals wahrgenommen wurde?

1965 fühlte sich laut Meinungsforschungsinstitut jeder zweite Bundesdeutsche tagsüber von Lärm gestört. In den 1970er Jahren erwachte aber auch weltweit ein Bewusstsein, etwas gegen Lärm unternehmen zu müssen. «Stress» wurde damals zu einem Modewort und Kampfbegriff. Die Kulturgeschichte des Lärms wird seit den 1970er Jahren ernsthaft untersucht – und Lärm auch politisch ernst genommen.

Wir leben heute also wieder leiser?

Zumindest im reichen Westen und Norden der Erde. Flugzeuge sind heute um bis zu 70 Prozent leiser als Düsenmaschinen vor 50 Jahren. Rein subjektiv sieht das freilich anders aus: Eine Erhebung von 2020 zeigt, dass sich 76 Prozent der Deutschen von Strassenverkehrslärm gestört fühlen. Neue Studien untersuchen aber auch, welche Auswirkungen Lärm auf Pflanzen hat: Pinyon-Kiefern etwa erzeugen an lauten Standorten bis zu 75 Prozent weniger Sämlinge als an ruhigen Plätzen.

Buchcover von «Die Welt ist laut»

Kai-Ove Kessler: «Die Welt ist laut». Rowohlt Verlag. Hamburg 2023. 448 Seiten. 40 Franken