Omikron: «Die EU muss endlich aufwachen»

Nr. 48 –

Panikartig verhängte Reiserestriktionen, aber geschützte Patente: Die neue Virusvariante offenbart das Scheitern der globalen Coronapolitik – und die Mitschuld der Schweiz.

Alles richtig gemacht und dennoch bestraft: Südafrika ist empört. Nachdem Wissenschaftler:innen Omikron, die neuartige Variante des Coronavirus, sequenziert und umgehend mit allen verfügbaren Informationen versehen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet hatten, verhängten die EU, die USA, Israel sowie weitere Länder panikartig Reiserestriktionen und nabelten das südliche Afrika vom Rest der Welt ab. Auch die Swiss transportiert nur noch Schweizer:innen und Liechtensteiner:innen. In den meisten Ländern müssen sich Einreisende vierzehn Tage in Quarantäne begeben. Das von der Pandemie ohnehin heftig gebeutelte Südafrika war wegen der Beta-Variante des Virus bereits im Sommer 2021 auf der «bad list» gelandet und hatte sich erst in den vergangenen Wochen etwas erholt und hoffte auf den Weihnachtstourismus. Nun wird es ein weiteres Mal hart zurückgeworfen, zumal auch der Flugverkehr in die Nachbarländer ausgesetzt wird. In den ersten 48 Stunden nach Verkündung des faktischen Einreiseverbots verzeichnete die Tourismusindustrie des Landes Stornierungen im Wert von 55 Millionen Euro.

Impfquote: circa vier Prozent

Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa kritisierte die Massnahmen nachdrücklich. Die Reisebeschränkungen seien «eine unfaire Diskriminierung unseres Landes und unserer Schwesterstaaten», erklärte er bei einer Fernsehansprache am Sonntagabend. Damit würden die Industriestaaten weiter «den Ökonomien der betroffenen Länder schaden und ihre Fähigkeit unterwandern, auf die Pandemie zu reagieren und sich von ihr zu erholen». Betroffen sind neben Südafrika Namibia, Simbabwe, Botswana, Moçambique, Eswatini, Malawi und Lesotho.

Im Unterschied zu diesen steht Südafrika mit zu 25 Prozent geimpfter Bevölkerung sogar vergleichsweise gut da, denn die Impfquote auf dem Kontinent liegt bei circa vier Prozent. Doch sie ist viel zu niedrig, um den prognostizierten Anstieg der Infektionen zu verhindern. Allerdings ist über die Virusvariante erst wenig bekannt, bei den bisher meist jungen Infizierten verlief die Krankheit bis jetzt sehr mild. «Die Welt sollte Südafrika und Afrika unterstützen, statt sie zu diskriminieren und zu isolieren», schreibt der Direktor des im südafrikanischen Stellenbosch ansässigen Centre for Epidemic Response and Innovation, Tulio de Oliveira, auf Twitter.

Nichts könnte das Scheitern der globalen Coronapolitik deutlicher machen als diese hektischen Abschottungsmassnahmen, wie sie aus der Flüchtlingspolitik bekannt sind. Impfstoffgerechtigkeit? Faires Teilen? Schnee von gestern. Dabei war das mediale Tamtam gross, als die WHO im Juli 2020 bekannt gab, durch die Covax-Initiative eine gerechte Verteilung der damals noch gar nicht entwickelten Coronaimpfstoffe zu garantieren. 165 Staaten hatten sich damals dem Unternehmen angeschlossen mit dem Ziel, bis Ende 2021 zwanzig Prozent des gefährdetsten Teils ihrer Bevölkerung zu impfen.

Die darauffolgende Geschichte ist bekannt: Die als «gut» bewerteten Impfstoffe vor allem von Biontech und Moderna sicherten sich schon im Vorfeld die wohlhabenden Länder, die eher schlecht beleumundeten wie Astra Zeneca wurden gehortet und nur allmählich an die Staaten abgegeben, die sich nicht selbst versorgen konnten. Viele Lieferungszusagen wurden nicht eingehalten. Die Industriestaaten wachten ausserdem eifersüchtig darüber, dass das pharmazeutische Know-how nicht in den Besitz der Schwellenländer gelangte.

Dabei hatte es vor gut einem Jahr eine von Südafrika und Indien forcierte Initiative gegeben, die bei der Welthandelsorganisation (WTO) die Freigabe derjenigen Patente beantragte, die bei der Prävention und Eindämmung der Pandemie helfen können. Über hundert Staaten und internationale Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder die Entwicklungsorganisation One hatten den Vorstoss damals unterstützt, doch er war damals am Widerstand der USA und der EU gescheitert – insbesondere Staaten mit starker Pharmalobby wie Grossbritannien, Deutschland und auch die Schweiz traten als Bremser auf.

Mit öffentlichen Geldern gefördert

Nach Joe Bidens Wahlsieg änderte sich auf Druck seiner Basis zwar die Haltung der USA, doch speziell Bundeskanzlerin Angela Merkel sperrte sich weiterhin gegen die Patentfreigabe. Die Industrieländer argumentieren, dass die Länder des Globalen Südens auch durch eine Freigabe nicht ausreichend schnell in der Lage seien, die aufwendigen mRNA-Impfstoffe herzustellen. Ausserdem fürchten sie um den Forschungsanreiz für die Pharmaindustrie. Die Befürworter:innen verweisen auf die öffentlichen Gelder, die für die Impfstoffentwicklung eingesetzt worden seien, um das Risiko für die Entwickler zu minimieren.

Im November hatten sich die Handelsminister:innen in Genf treffen wollen, um den «Trips Waiver», also die Aussetzung der Patente für Coronaimpfstoffe und -medikamente, auf Druck Indiens weiter zu verhandeln. Doch die erste Ministertagung der WTO nach vier Jahren wurde wegen des Auftauchens von Omikron abgesagt. Indien hatte kritisiert, dass die Industrieländer, angeführt von der EU, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich, den Zugang zu Impfstoffen für arme Länder verhinderten und Menschenleben aufs Spiel setzten.

Gegen die «Impfstoff-Apartheid»

Der Schweizer WTO-Botschafter, Didier Chambovey, erklärte mittlerweile, sein Land sei offen für Kompromisse, lehne aber einen vollständigen Verzicht auf Patentrechte ab. Auch in der EU gibt es angesichts der neuerlichen Coronabedrohung Bewegung. Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Valdis Dombrovskis, hat angekündigt, einen Kompromissvorschlag vorzulegen. So soll die Impfstoffproduktion in Schwellenländern in begrenzten Ausnahmen möglich sein, unabhängig von der Zustimmung der Patentinhaber. Allerdings dürften die Impfstoffe, für die Lizenzgebühren fällig werden, dann nicht exportiert werden. Derzeit planen Moderna und Biontech neue Produktionsstätten in Afrika.

Unabhängig von der abgesagten Ministertagung gehen die Trips-Verhandlungen über die Handelsaspekte geistigen Eigentums, die auch die Freigabe von Impfstoffpatenten betreffen, auf Delegiertenebene der WTO weiter. An der am vergangenen Montag eröffneten Sondersitzung der WHO gingen allerdings weder Angela Merkel noch der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset auf die Patentfrage ein. Lediglich WHO-Präsident Tedros Adhanom Ghebreyesus mahnte die gerechte Verteilung von Impfstoff an.

Der internationale Pflegeverband Global Nurses United hat bei der Uno inzwischen Beschwerde gegen die «Impfstoff-Apartheid» eingereicht. Deutschland und die EU, so meint auch Elisabeth Massute von Médecins Sans Frontières, müssten endlich aufwachen. Die Organisation fordert, alle medizinischen Produkte gegen Covid-19 für mindestens drei Jahre vom Patentschutz auszunehmen.