Bürgerrecht: Die historische Chance
Unter dem Radar der meisten Medien verhandelt das Parlament in der laufenden Wintersession grundsätzliche Fragen zur Demokratie und zu den Menschenrechten. So hat der Nationalrat am Montag definitiv den Vorschlag versenkt, dass völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter künftig einem obligatorischen Referendum unterstehen. Was sperrig tönt, hätte fatale Konsequenzen gehabt: Für internationale Abkommen zur Stärkung der Menschenrechte wäre bei Abstimmungen das Ständemehr erforderlich gewesen – und damit eine alte SVP-Forderung erfüllt worden (siehe WOZ Nr. 45/2020 ). Die zwingende Zustimmung der Kantone bedeute höhere Hürden für einen effektiven Menschenrechtsschutz, warnte SP-Nationalrätin Samira Marti: «Es geht also um eine Erschwerung für das Individuum, neue Rechte zu erlangen.» Marti überzeugte die Mehrheit des Nationalrats, der Angriff ist damit abgewehrt.
Über neue Rechte, genauer über einen einfacheren Zugang zum Bürgerrecht, diskutiert am nächsten Dienstag der Ständerat. Die Grüne Lisa Mazzone fordert eine erleichterte Einbürgerung für Secondos und Secondas, ihr SP-Kollege Paul Rechsteiner die Einführung des Ius soli und damit das Bürgerrecht für alle hier Geborenen. Die beiden Forderungen bieten eine historische Chance für einen demokratischen Aufbruch. Mit dem Ausschluss eines Viertels der Bevölkerung vom Stimm- und Wahlrecht hat die Schweizer Demokratie ein immer grösseres Legitimationsproblem. Das Bürgerrecht würde die Secondos und Secondas mit ihren Alterskolleg:innen rechtlich gleichstellen: ob auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder vor Gericht. Zudem würde die für viele junge Erwachsene unerträgliche Diskriminierung durch das Einbürgerungsverfahren gestoppt. Der Staat signalisiert ihnen dabei über Jahre, dass sie nicht dazugehören, obwohl sie hier geboren sind.
Dass der Ständerat die Chance packt, ist eher unwahrscheinlich. Vielleicht erinnern sich einige Bürgerliche und Liberale, die sonst ja gerne die Freiheit hochhalten, aber doch noch an Samira Martis Worte: Echte Demokrat:innen erschweren dem Individuum nicht den Zugang zu den Rechten. Sie erleichtern ihn.