Bürgerrecht: «Eine Ohrfeige für die jüngere Generation»

Nr. 20 –

Der Bundesrat will keinen einfacheren Zugang zum Bürgerrecht und lehnt zwei Vorstösse von Lisa Mazzone und Paul Rechsteiner kategorisch ab. Angesichts der dürftigen Begründung geben sich die beiden StänderätInnen nicht geschlagen.

Alle hierzulande geborenen Secondas und Secondos sollten den Schweizer Pass erhalten: Entbindungsstation im Spital San Giovanni, Bellinzona. Foto: Alessandro Crinari, Keystone

Die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts verläuft alles andere als schnurgerade. Seit der Gründung des Bundesstaats 1848 kam es wiederholt zu Ausweitungen und Rückschlägen bei der Erteilung der Staatsbürgerschaft. Mal wurde sie praktisch als Schritt hin zur gesellschaftlichen Teilhabe verstanden, dann wieder kulturell aufgeladen als Krönung eines wie auch immer gearteten «Schweizerseins». Man durfte also gespannt sein, wie der gegenwärtige Bundesrat zum Thema Stellung bezieht. Anlass dazu boten ihm zwei Vorstösse der StänderätInnen Lisa Mazzone (Grüne, Genf) und Paul Rechsteiner (SP, St. Gallen) für eine Offensive beim Bürgerrecht.

Ihre Vorschläge stellten die beiden Anfang März in der WOZ vor (siehe WOZ Nr. 10/2021 ). Rechsteiner plädiert für einen Prinzipienwechsel: Heute gilt in der Schweiz das Ius sanguinis, wonach das Bürgerrecht nach der familiären Abstammung vergeben wird. Neu soll das Ius soli eingeführt werden, das Geburtsortsprinzip. Demnach würden alle hier geborenen Secondos und Secondas den Schweizer Pass erhalten. Mazzone schlägt zumindest eine erleichterte Einbürgerung für AusländerInnen der zweiten Generation vor, was diesen immerhin einen Rechtsanspruch auf das Bürgerrecht geben würde.

Seit letzter Woche nun liegt die Antwort des Bundesrats vor. Er lehnt die Vorschläge von Rechsteiner und Mazzone kategorisch ab, wobei die inhaltlichen Begründungen auf tiefem Niveau segeln. Mehr noch: Die Antworten zeugen von bedenklichem historischem Halbwissen und einem mangelnden Gespür für die Gegenwart.

«Im SVP-Narrativ gefangen»

Der Bundesrat behauptet nämlich, das heute gültige Ius sanguinis ermögliche eine «Steuerung der Zuwanderungspolitik». Dabei verhält es sich historisch gerade umgekehrt. Das Abstammungsprinzip wurde im 19. Jahrhundert unter anderem eingeführt, um die Auswanderung zu bewältigen, nicht die Einwanderung. Der junge Bundesstaat konnte mit dem Ius sanguinis die Heerscharen von Schweizer AuswanderInnen und ihre Nachkommen an sich binden, die in Übersee ihr Glück suchten und in den Kolonien Geschäfte machten.

So nützlich das Abstammungsprinzip für Auswanderungsgesellschaften einst war, heute ist die Schweiz längst zu einem Einwanderungsland geworden – ähnlich wie die USA, die wenig überraschend das Ius soli kennen. In der Schweiz zeitigt die restriktive Auslegung des Bürgerrechts hingegen dramatische Folgen. Ein Viertel der Bevölkerung ist mittlerweile von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen und lebt in der ständigen Unsicherheit, das Aufenthaltsrecht zu verlieren. «Die Antworten des Bundesrats sind eine Ohrfeige für die vielen Menschen ohne Schweizer Pass, die hier aufgewachsen und Teil der Gesellschaft sind», sagt Paul Rechsteiner. «Die schweizerische Demokratie hat Besseres verdient als die fortdauernde Ausgrenzung eines bedeutenden Teils insbesondere der jüngeren Generation von den politischen Rechten.»

Bei der Antwort auf Mazzones Vorschlag fallen die jetzigen BundesrätInnen sogar hinter Positionen zurück, die ihre VorgängerInnen noch vor zwanzig Jahren bezogen haben: 2004 befürwortete der Bundesrat die erleichterte Einbürgerung für die zweite Generation, diese scheiterte erst in der Volksabstimmung. «Das Verhalten des Bundesrats ist konsternierend. Er scheint in der Migrationspolitik noch immer in einem Narrativ der SVP gefangen und weit weg von der Realität zu sein. Fast überall in der Gesellschaft ist heute eine grössere Offenheit und Anerkennung zu spüren», sagt Mazzone. «Nach dem deutlichen Scheitern der Begrenzungsinitiative und der Antimenschenrechtsinitiative der SVP sind die Erklärungen umso unverständlicher», meint auch Rechsteiner.

Dann halt mit einer Initiative

Der Bundesrat lehnt den Vorstoss zur erleichterten Einbürgerung mit der formalen Begründung ab, dass die Kantone und die Gemeinden am besten beurteilen könnten, wer die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfülle. «Damit will er wohl im Ständerat punkten. Aber der Föderalismus in Ehren, die Begründung ist nachweislich falsch», sagt Mazzone. «Die erleichterte Einbürgerung der dritten Generation wurde erst vor vier Jahren zur Bundessache erklärt, notabene in einer Abstimmung mit Volksmehr. Warum soll das bei der zweiten Generation nicht möglich sein? Damit käme es bei Einbürgerungen zu deutlich weniger Willkür.»

Noch geben sich Mazzone und Rechsteiner nicht geschlagen. Wenn das Geschäft in der Sommersession am 16. Juni in den Ständerat kommt, wollen sie eine Mehrheit von ihren Anliegen überzeugen. Sollten sie scheitern, gehen die Vorstösse nicht weiter an den Nationalrat. «In diesem Fall hätten wir immerhin keine Zeit im Parlament verloren», sagt Mazzone. «Dann braucht es eine Initiative aus der Zivilgesellschaft.» Rechsteiner ergänzt: «Bei der bedenklichen Blockadehaltung des Bundesrats ist es umso wichtiger, den Kampf für die vollwertigen Rechte der Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, mit langem Atem aufzunehmen.»