Dr. h. c. Mario Gattiker: Ehre, wem Ehre gebührt?

Nr. 49 –

Akademische Würdigungen erfolgen nach undurchsichtigen Kriterien und erhalten nur selten breite Aufmerksamkeit. Tun sie es doch, stecken meist politische Konflikte dahinter.

Mario Gattiker (links) beim Festakt an der Uni Fribourg. Als Chef des Bundesamts für Migration stand er für eine harte Linie in der Asylpolitik, Ende Jahr wird er pensioniert. Foto: stemutz.com

Tina Turner, Benito Mussolini, Angela Merkel und Mario Gattiker haben etwas gemeinsam: Ihnen wurde von einer Schweizer Universität der Ehrendoktortitel verliehen. In allen Fällen erfolgte ein gewisses Medienecho – im Fall des kürzlich ausgezeichneten Gattiker nicht unbedingt ein positives.

Bereits bei der Ankündigung der Universität Fribourg, beim diesjährigen «Dies academicus» (Tag der Akademie) den Leiter des Staatssekretariats für Migration (SEM) würdigen zu wollen, regte sich Widerstand. Linke Jungparteien und asylpolitische NGOs wie Droit de rester Fribourg fanden in einer gemeinsamen Stellungnahme klare Worte: «Die unmenschliche Politik Gattikers verdient keine Auszeichnung.» Als SEM-Chef habe Gattiker in den vergangenen Jahren einen Kurs verfolgt, der die Asylpolitik ihres eigentlichen Sinns beraubt habe. Die Unterzeichnenden forderten die Hochschule dazu auf, Gattiker den Titel nicht zu verleihen – erfolglos. Als Gattiker am 30. November, zwei Wochen nach seiner Auszeichnung, eingeladen wurde, an der Uni einen Vortrag zur europäischen Migrationspolitik zu halten, versammelten sich rund zwanzig Personen vor dem Hörsaalgebäude, um zu protestieren. Die Uni bot die Polizei auf, die darauf zwei Leute wegen «Hinderung einer Amtshandlung» kurzzeitig festnahm.

Prestige, Glamour, Marketing

Weshalb sich der Chef des SEM kurz vor seiner Pensionierung trotz negativer Schlagzeilen über die Auszeichnung gefreut haben dürfte, liegt auf der Hand: So darf er künftig nicht nur seinem Namen ein Dr. h. c. (honoris causa; deutsch: ehrenhalber) voranstellen, der Titel bringt ihm insbesondere «Sozialprestige», wie Johannes Koll es nennt. Der Historiker der Wirtschaftsuniversität Wien hat 2019 den Sammelband «Zuviel der Ehre?» mit herausgegeben, der sich mit der Geschichte akademischer Ehrungen in Deutschland und Österreich beschäftigt. Auch ausserhalb des akademischen Umfelds mache sich ein Dr. h. c. ganz gut, etwa «wenn man in einen Aufsichtsrat oder einen Vorstand gewählt werden möchte», so Koll. Wie aber kam es dazu, dass die Uni Fribourg ausgerechnet den SEM-Chef geehrt hat – und was hat die Hochschule davon?

Im Gegensatz zum regulären Doktortitel, für dessen Erwerb eine Dissertation vorgelegt werden muss, wurde der ehrenhalber ausgestellte Titel schon immer unter undurchsichtigen Kriterien vergeben. Ein Ehrendoktor kann jemandem für sein Lebenswerk oder aber für hervorragende Leistungen in akademischen oder nichtakademischen Bereichen verliehen werden. Was als «hervorragend» gilt, liegt dabei im Ermessen derer, die den Titel verleihen: meist ein eher kleiner Kreis von Personen, oft vor allem Professor:innen.

Seit der frühen Neuzeit etablierte sich die Vergabe des Ehrendoktors als gängige universitäre Praxis, die meist jährlich erfolgt. Für die Hochschulen erfüllt sie laut Koll verschiedene Zwecke. So könnten diese damit ihr wissenschaftliches oder gesellschaftspolitisches Profil schärfen, etwa indem sie – wie kürzlich die belgische Universität Mons – einer Person wie Greta Thunberg einen Doktor verleihe. Es geht aber auch um Glamour und Marketing: «Wenn man renommierte Politiker oder bereits ausgezeichnete Personen ehrt, fällt etwas vom Glanz der Person auf die eigene Hochschule ab.» Das erklärt, weshalb Unis immer wieder gerne Prominente ehren. Die Universität Bern machte in diesem Jahr Tina Turner zur Dr. h. c. und erhielt viel Aufmerksamkeit für den Titel, den sie 2009 schon an Angela Merkel verliehen hatte (auch wenn diese ihn erst sechs Jahre später persönlich in Empfang nehmen sollte).

Der Titel für Merkel wurde von Unileitung und Senat, dem obersten Gremium der Uni, gesprochen – anlässlich des 175-Jahre-Jubiläums der Hochschule, wie Uni-Generalsekretär Christoph Pappa bestätigt. Im Normalfall liegt die Auswahl der zu Ehrenden an Schweizer Universitäten in der Kompetenz der Fakultäten. Wie genau die Vergabe abläuft, ist von Hochschule zu Hochschule verschieden und in den gesetzlichen Grundlagen und Reglementen festgelegt. Während in Bern die Fakultätskollegien, in denen auch Studierende und Mittelbau vertreten sind, über die Vergabe entscheiden, war die Auswahl von Gattiker an der juristischen Fakultät Fribourg eine rein professorale Angelegenheit. Die Wahl sei «in geheimer Abstimmung» und «mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Professorenschaft» vorgenommen worden, schreibt die Uni auf Anfrage.

«Die Achtung der rechtlichen Vorgaben im Allgemeinen und der Grund- und Menschenrechte der betroffenen Personen», «Loyalität, Expertise und ein ausgeprägtes Sensorium für die Bedeutung des demokratischen Rechtsstaats»: Die Begründung, mit der die Fakultät dem Asylhardliner den Titel verlieh, liest sich eher wie eine Stellenbeschreibung. Inwiefern Gattiker Hervorragendes geleistet hat, bleibt auch nach der Durchsicht der Festschrift unklar; die Frage, von wem er als Ehrendoktor vorgeschlagen wurde, lässt die Universität unbeantwortet.

Ein weiteres Ziel, das Unis mit der Verleihung von Ehrendoktortiteln verfolgen, ist es, die jeweilige Person an die Hochschule zu binden. Koll nennt das «Netzwerkbildung», die inner- wie auch ausserhalb des akademischen Rahmens von Nutzen sein könne: «Wenn Personen aus Politik oder Wirtschaft der eigenen Hochschule wohlgesinnt sind, kann das handfeste Vorteile haben, etwa, indem finanzielle Ressourcen an die eigene Uni fliessen.»

Ausdruck von Wertesystemen

Bleibt die Frage, welche Relevanz dieser archaisch anmutende Zopf ausserhalb der Uni hat. Koll sagt: «Sobald die Medien über eine akademische Ehrung berichten, erhält die Sache eine andere Dimension.» Er hebt aber auch hervor, dass Ehrungen im Gegensatz zu Entehrungen nur selten kontroverse Diskussionen auslösen. «Entehrungen sind aufschlussreicher für das gesellschaftliche Selbstbild, weil sie auf einen Wertewandel verweisen.» Das zeigte sich in den letzten Jahren, als deutsche und österreichische Hochschulen vermehrt die Liste der von ihnen Geehrten nach Verbindungen zum Nationalsozialismus durchforschten.

Während einige den Betreffenden offiziell die Titel entzogen, befanden andere, ihnen seien reglementarisch die Hände gebunden. Oder sie weigerten sich – wie die Universität Lausanne, die den 1937 an den faschistischen Diktator Benito Mussolini verliehenen Titel bis heute nicht zurücknehmen will – mit der Begründung, man wolle die Geschichte nicht umschreiben. In jedem Fall geben Ehrungen und Entehrungen Aufschluss über den Umgang mit der Geschichte und das System der geltenden Werte. Im Fall des an Mario Gattiker verliehenen Titels sind es, zumindest aus Sicht der Kritiker:innen, umstrittene Werte, die honoriert wurden. Die Uni Fribourg schreibt dazu, dass man selbstverständlich hinsichtlich der Gründe, aus denen Gattiker ausgezeichnet worden sei, «auch unterschiedliche Ansichten vertreten» könne.