Elternzeit: Die Klassenfrage rückt wieder in den Mittelpunkt

Nr. 49 –

Der Konflikt um das richtige Modell für eine Schweizer Elternzeit dauert an. Gewerkschafterin Katharina Prelicz-Huber wirft den Befürworter:innen einer paritätischen Lösung Arroganz vor.

Erhalten Eltern in der Schweiz eine gemeinsame Auszeit? Eine Elternzeit, um nach einer Geburt in Ruhe und ohne Geldnot die ersten Schritte als Familie zu tun, den neuen Alltag zu organisieren, die neue Realität zu bewältigen?

In den meisten europäischen Staaten ist dieses Sozialwerk längst verwirklicht, die positiven Effekte sind unbestritten. In der Schweiz gibt es erste ernsthafte Vorstösse für eine Elternzeit in den Kantonen Bern und Zürich, doch bis zu einer nationalen Lösung werden noch viele Jahre verstreichen. Das liegt nicht nur am politischen Widerstand der bürgerlichen Parteien und von Unternehmensverbänden, sondern auch an progressiven Kräften. Die Allianz für eine Elternzeit, ein Bündnis zahlreicher Organisationen, ist in schlechter Verfassung. Eine nationale Initiative zerbrach im Sommer an internen Zerwürfnissen (siehe WOZ Nr. 42/2021 ).

Nun steht die Bewegung still. Zwei Lager stehen sich gegenüber: Die Befürworter:innen des Zürcher Modells pochen auf eine paritätische Elternzeit, in der Väter und Mütter eine gleich lange Auszeit bekommen. Je 18 Wochen für beide Elternteile fordert die Zürcher SP, darüber abgestimmt wird voraussichtlich Ende Mai nächsten Jahres. Der Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen würde dabei in der neuen Elternzeit aufgehen. Die gleichteilige Auszeit soll bewirken, dass Väter mehr Pflichten in Haushalt und Kinderbetreuung übernehmen – und vor allem, dass Mütter auf dem Arbeitsmarkt keine Benachteiligung mehr erfahren. Studien bestätigen, dass der Gleichstellungseffekt bei paritätischen Lösungen am höchsten ist.

Das Zünglein an der Waage

Das andere Modell, die Berner Variante, will den Mutterschaftsurlaub nicht antasten, sondern 24 zusätzliche Wochen einführen. Die Hälfte dieser Zeit, 12 Wochen also, können Mütter und Väter frei unter sich aufteilen. Die Initiative dazu ist eingereicht, nun muss die Berner Regierung Stellung beziehen. Eine Vorlage dürfte in zwei Jahren an die Urne kommen.

«Jetzt warten alle, welche Variante besser abschneidet, und nutzen die Zeit für bilaterale Gespräche», kommentiert Katharina Prelicz-Huber den Stillstand. Prelicz-Huber ist Präsidentin der Gewerkschaft VPOD, des Verbands des Personals öffentlicher Dienste, und als solche so etwas wie das Zünglein an der Waage im Elternzeit-Streit. Wenn die Gewerkschaften nicht wollen, passiert nichts. Gehen sie in die Offensive, versammeln sich die anderen Kräfte hinter ihnen. Prelicz-Huber hat mehr Sympathien für das Berner Modell, so viel lässt sich sagen: «Erhalten beide Elternteile 18 Wochen Elternzeit, wird die körperliche Belastung der Mutter völlig ignoriert. Viele Frauen müssen nach der Geburt aus gesundheitlichen Gründen noch wochen- bis gar monatelang zu Hause bleiben, und zwar unbezahlt. Die kommen gar nie in die Phase, wo man von Urlaub sprechen kann.»

Prelicz-Huber hat diese Erfahrungen bei der Geburt ihres Kindes selber gemacht: «Ich dachte, ich überlebe das nicht.» Für sie steckt in der Elternzeit auch eine Klassenfrage. Für eine Verkäuferin, «die nicht so locker nebenbei ein Kind ‹hinschmeissen› konnte», sei es eine Zumutung, dass sie nach 14 Wochen aus Existenzgründen wieder neun Stunden im Laden stehen müsse. Gutverdienende Mütter könnten ohne Weiteres auf eigene Rechnung ein bisschen länger zu Hause bleiben, könnten sich Hilfe organisieren. Und für die Betreuung der Kleinen finde sich schon ein Kitaplatz. An der breiten Realität im Land gehe diese Konstellation vorbei. «Da wird die Arroganz der bürgerlichen Frauen sichtbar und das Privileg der linken Frauen, die da mitziehen», sagt Prelicz-Huber. Sie glaubt, es gebe ein grosses Tabu, das die Debatte lähme: «Norm ist zu sagen, es gehe uns gut in der Schwangerschaft und es gehe uns gut nach der Geburt, aber das stimmt oft nicht.» Darüber müsse man offen reden, bevor eine Elternzeit ausgestaltet werde.

Stufenweiser Wiedereinstieg

In der Berner SP wurde diese Debatte schon geführt. Tanja Bauer, kantonale SP-Politikerin und Gewerkschafterin, hat die Elternzeit-Initiative massgeblich konzipiert. Die Mutterschaftsversicherung dürfe nicht angetastet werden, sagt sie: «Mutterschutz ist gesundheitlich wichtig und hat Einfluss auf die physische und psychische Gesundheit von Mutter und Kind.» Die meisten Frauen würden mindestens ein halbes Jahr einplanen, bevor sie wieder arbeiten gingen. «Heute ist das grösstenteils unbezahlte Care-Arbeit, und das geht nicht.»

Nicht verhandelbar ist für sie auch die im Berner Modell vorgeschlagene Anzahl Wochen, nämlich 38 inklusive der heute 14 Wochen Mutterschaftsurlaub. Das sei das absolute Minimum, wolle man einen gesellschaftlichen Effekt erzielen. Im Median liegt die Elternzeit in den EU-Staaten bei 43 Wochen. Allerdings ist sie in anderen Ländern oft nur spärlich entschädigt, mit dem Effekt, dass die Auszeit nur von jenen bezogen wird, die sie sich auch leisten können. Für Bauer ist klar: Mütter und Väter müssen für die ganze Zeit achtzig Prozent Erwerbsersatz erhalten.

Das klingt nach viel Geld, Studien zeigen aber, dass die Steuereinnahmen die Ausgaben übertreffen, wenn von den Müttern nur ein Prozent mehr als heute nach der Geburt arbeiten geht. Dafür sorgen soll im Berner Modell auch eine flexible Verteilung der Elternzeit auf die ersten vier Lebensjahre der Kinder, die den stufenweisen Wiedereinstieg in den Job erleichtert.

Flexibel oder starr paritätisch?

Offen – und grosser Streitpunkt – bleibt, ob sich mit so einem Modell etwas an der typischen Schweizer Rollenverteilung ändert: Frauen machen den Haushalt, sie kümmern sich um die Kinder, sie verzichten auf ein ausreichendes Einkommen und bleiben damit abhängig vom Partner. Achtzig Prozent der werktätigen Männer in der Schweiz sind vollzeitbeschäftigt, bei den Frauen sind es nur die Hälfte. Jede dritte Frau ohne Job arbeitet nicht, weil sie sich um den Haushalt kümmern muss, bei den Männern sind es nur drei Prozent. Für VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber greift das Argument zu kurz: «Nur weil ein Vater nach der Geburt länger zu Hause bleibt, heisst das noch lange nicht, dass er dauerhaft mehr Pflichten übernimmt.»

Tanja Bauer ist überzeugt, dass ein flexibles System mehr Akzeptanz finde und deshalb gesellschaftlich mehr verändere als ein starres paritätisches Modell. Zahlen aus Deutschland zeigen allerdings, dass nur ein Viertel der Männer mehr als den Pflichtteil von zwei Monaten Elternzeit beziehen, neunzig Prozent der Frauen dagegen das Maximum ausschöpfen. Der Grund dafür: Weil Männer in der Mehrheit mehr verdienen, tragen sie auch mehr zum Haushaltseinkommen bei. Geld, das bei einer Absenz vom Arbeitsplatz fehlt.

Vielleicht ist aber auch das nicht die entscheidende Debatte für die Schweiz. Weil jedes Modell, das deutlich mehr bezahlte Auszeit als heute beinhaltet, eine Verbesserung des Status quo sein würde. Tanja Bauer sagt: «Kleinkinder sind Arbeit. Diese Arbeit muss in jedem Fall geleistet werden. Aber wenn wir diese Arbeit nicht entschädigen, verlieren die Frauen. Sie sind es, die reduzieren oder ganz zu Hause bleiben. Und damit fehlen sie uns auch als Fachkräfte.»