Theater: Magisch-schrulliger Abend
Im Foyer steht eine grosse glitzernde Maschine, der «Angstschredder». Er macht Papierspaghetti aus all den gruseligen Zeichnungen, in denen Kinder ihre Ängste vor oder nach dem Theaterbesuch festhalten.
Seit Jahrhunderten wird die Geschichte von Hänsel und Gretel erzählt, die von den Eltern im Wald ausgesetzt werden, weil das Essen nicht mehr reicht. Das Team des Neumarkttheaters um die Regie von Annina Machaz und Nils Amadeus Lange wirft anhand des Klassikers grosse Fragen auf: Warum wird die Familie trotz harter Arbeit nicht satt, wo doch andere immer reicher werden? Fair ist das nicht, oder? Der moralische Zeigefinger hebt sich mal deutlich, mal spielerisch, mal subtil und drückt immer gekonnt in die Wunde.
Gleich zu Beginn stellt sich Rahel Sternberg im ausladenden schwarzen Kleid vor – nicht als Hexe, sondern als böse Galeristin. Sie rodet den Wald, um ihre Galerie zu erweitern und noch reicher zu werden. Der Seitenhieb auf den Kunstmarkt sitzt, denn Sternberg fächert die neurotischen Facetten der Cüpli-Diva gekonnt auf, sodass Gross wie Klein ihren Spass haben. Dass die Kleinsten im Verlauf des Stücks nicht verloren gehen, stellen Nina Emge (Gretel) und Anna Hofmann (Hänsel) sicher. Verschwörerisch wenden sie sich an die Kinder, die gemütlich auf Kissen direkt vor der Bühne sitzen. Von dort aus bestaunen sie den tanzenden Elch, den rheinländischen Bären mit unruhigem Darm oder den exzentrischen Vogel – Tiere, die Jakob Leo Stark mit viel Humor zum Leben erweckt.
Doch hier wurde nicht nur liebevoll inszeniert – mit Glitzer und sorgfältigen Details wie der Mäusewelt unterhalb der Bühne –, sondern auch viel recherchiert: Die Neuinterpretation ist eine Hommage an jene Frauen, die im frühen 19. Jahrhundert als Märchenerzählerinnen umherreisten und später in Vergessenheit gerieten – anders als die Gebrüder Grimm, die die Geschichten von ihnen hörten und dann niederschrieben. Gretel und Hänsel werden hier zu Schwestern und die Namen im Titel verdreht. Diese Verschiebungen, unterstrichen von der eigens produzierten Musik von Xzavier Stone und Merlin Züllig, sorgen für einen magisch-schrulligen Abend.
«Gretel und Hänsel» in: Zürich Theater Neumarkt. Bis 8. Januar 2022. www.theaterneumarkt.ch