Theater: Aber die Soziologin!
In der letzten Saison unter der Parole «Love, Play, Fight» ruft das Theater Neumarkt in Zürich nochmals zum Klassenkampf: «Klasse & Kitsch» schiesst vor allem mit Diskurswissen.
Klassenkampf – wer sagt das heute noch, ausserhalb von Gewerkschaftskreisen? Vielleicht etwas eingestaubt, als Begriff? Oder erlebt er doch eine Renaissance, wie Hayat Erdoğan in ihrem neuen Stück «Klasse & Kitsch» schreibt? Oder vielmehr zitiert: Die Dramaturgin hat für ihre vorletzte Arbeit als Ko-Intendantin am Theater Neumarkt gut sortierte Bücherregale durchgewälzt und eine Textcollage zusammengezimmert: Judith Butler, Georg Büchner, Pierre Bourdieu, die Bibel und viele andere mehr, als Antwort auf ebenfalls zitierte Aussagen von Silvia Blocher, Elon Musk, J. D. Vance. Eine Kampfansage ist das aber eher nicht.
Mit den leitenden Positionen hat Erdoğan eine ganze Reihe von Kollaborateurinnen aus einer Klasse betraut, die innerhalb des Stadttheaterbetriebs klassischerweise weniger privilegiert ist: Sophia Senn, bisher Regieassistenz, feiert Regiedebüt; Noé Wetter, zuletzt Ausstattungsassistenz am Neumarkt, macht die Bühne; und Flurina Vieli, bei verschiedenen Theatern als Assistentin angestellt, ist an diesem Abend für die Kostüme zuständig. Und auf der Bühne findet sich, neben Janos Mijnssen, der den Abend am Cello begleitet, auch ein Kinderchor, der im Schlussakkord seinen grossen Auftritt hat.
Es ist denn auch eine Kinderstimme, die den Abend eröffnet (und fortan aus dem Off die Erzählerin gibt). Sie erzählt vom faulen Mond, der verwelkten Sonne, von existenzieller Einsamkeit – und spielt so Grossmutters Märchen aus Büchners «Woyzeck» an die Älteren im Publikum zurück. Es folgt der erste von drei Akten: Eva und Eva im Paradies auf Erden (Adam scheint obsolet). Für die kleine Neumarktbühne ist dieses irdische Eden auf das Wesentliche reduziert: Springbrunnen, Rindenmulchwege, Rasen und Büsche wie mit der Nagelschere getrimmt.
Wie in Blochers Garten
Melina Pyschny als Eva liest im Liegestuhl «White Fragility», während Marlina Mitterhofer als ebenfalls Eva die bornierte Tradwife gibt, inklusive Emanzipationsbehauptung: Der Garten sei ihr Revier, nicht das ihres Mannes. Die Worte hat sich Erdoğan bei Blochers geliehen: Für die Gartenserie «Glanz & Gloria blüht auf» hatten diese einst die «Pforte zu ihrem Paradies» geöffnet, wie es bei SRF über den 12 000 Quadratmeter grossen Garten hiess. Das lässt sich im Stücktext nachlesen, der wie eine akademische Arbeit mit Fussnoten und Unterkapiteln versehen ist. Auf der Bühne sind die Referenzen oft nur zu erahnen.
Der zweite Akt berührt eine Realität, die den meisten im Publikum schon eher vertraut sein dürfte. Der Kinderchor legt vor: «Du bist deines Glückes Schmied.» Die Evas wälzen sich nachts umher, um den Schlaf gebracht durch ihre neoliberale Eigenverantwortung als Individuen. Dabei will Eva doch kein Leben als Superreiche, keine Unsterblichkeit, keine «Longevity». Einfach leben will sie. Ist «Freiheit» nur eine Frage des Geldes, das eben ungleich verteilt ist? Aber die Soziologin im Fernsehen sagt, ohne Wettkampf kein Antrieb! Und Eva sitzt in der Küche, scrollt, raucht, neben ihr hängt ein billiger Druck von Vermeers «Mädchen mit dem Perlenohrring». Sie ist jetzt Pflegerin, geht nebenbei putzen und fragt sich den Rest der Zeit, warum sie sich für ihr Dasein schämt. All das findet im Text statt, wird durchmonologisiert.
Eva in der Scheissrolle
Dann wird es doch plötzlich lebhaft, als Mitterhofer Erbsünde spielt: Gott als Horrorfilmfigur mit über den Kopf gerissenen Klauenhänden, Adam als x-beiniger Nackedei und Eva, leicht genervt, die ausschert und sagt, was sie eigentlich sagen würde, wenn man ihr nicht eine «absolute Scheissrolle» verpasst hätte.
Wie lassen sich die 99 Prozent denn nun vereinen, die heute so viel heterogener sind als noch die Arbeiter bei Marx? Dass man so, wie es das reichste eine Prozent tut, nicht weitermachen kann, darin sollte man sich eigentlich einig sein. Auch die Frage nach einem heutigen Klassenverständnis wird im dritten Akt zunächst durchexerziert. Ob gewollt oder nicht, kann einen das an den Rand der Verzweiflung bringen. Trotz immer neuen Theorien und Analysen scheint sich an den eigentlichen Verhältnissen doch wenig verändert zu haben. Was definitiv beabsichtigt ist: die Verzweiflung, die sich beim Zitieren der Präambel der Schweizer Verfassung einstellt, wonach sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen bemisst. Ja klar.
«Love, Play, Fight» lautete die Parole der letzten sechs Spielzeiten unter Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert. Gemessen an dem Manifest, das sich die drei für ihre Intendanz gegeben haben, lässt sich für «Klasse & Kitsch» konstatieren: Love: joa, Play: check, Fight: hm. Erdoğans Munition ist vor allem Diskurswissen, mit dem hier so schnell geschossen wird, dass vieles vorbeirauscht. Zwar kommt das Durchexerzieren des Reclam-Reckwitz-Kanons spielerisch und vergleichsweise leichtfüssig daher. Dennoch fragt man sich wie nach einem guten Geisteswissenschaftsstudium, was man danach eigentlich damit anfängt. Oder auch, wie viele der 99 Prozent ein so referenzenreicher Abend denn erreichen kann.
Ein wirkliches Aufbegehren kommt jedenfalls erst am Schluss auf, als Kinderchor und Spielende anfangen zu rappen und «Rolex für alle» des deutschen Rappers Disarstar zum Besten geben. Gänsehaut.
«Klasse & Kitsch». In: Zürich Theater Neumarkt. Letzte Vorstellungen: Di–Sa, 25.–29. März 2025, jeweils 19.30 Uhr. www.theaterneumarkt.ch