Theater für Kinder: Die Dragqueen und ­ das Rotkäppchen

Nr. 47 –

In ihrer aktuellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zeigt Brandy Butler, wie ein entspannter Umgang mit unterschiedlichen Identitäten aussehen kann.

Brandy Butler in ihrer Märchenadaption «Red»
Autorin, Regisseurin, «Grossmutter»: Brandy Butler in ihrer Märchenadaption «Red». Foto: Philip Frowein

Als der Wolf plötzlich von der digitalen Leinwandwelt mitten auf die Bühne ins «echte Leben» tritt, kommt zum ersten Mal an diesem Sonntagnachmittag etwas Unruhe in den Saal. Die Handlung des Stücks dürfte den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Zürcher Theater Neumarkt bekannt sein: «Rotkäppchen» ist Teil der Sammlung der Brüder Grimm und eines der am häufigsten adaptierten und interpretierten Märchen Europas. Seit diesem November ist die Liste der Bühnenadaptionen um ein Stück länger. Die Kulturschaffende, Aktivistin und Pädagogin Brandy Butler übersetzt mit «Red. Ein digitales Märchen» die Geschichte und ihre Figuren in die Gegenwart.

Der Wolf im Cyberspace

So heisst Rotkäppchen heute Red, wie seine Lieblingsfarbe. Wie man durch ein Gespräch mit der Grossmutter erfährt, wurde es früher Alfred genannt, nun aber nur noch Red, ohne Pronomen. Das ist gar nicht so modern, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: «In vielen alten Versionen des Märchens wird Rotkäppchen einfach als Kind dargestellt», sagt Butler, «ohne klare Geschlechts- oder Gendermerkmale.» Auch der Ort der Handlung hat ein Upgrade erfahren. Der Wald ist ein digitaler Raum, den die Darsteller:innen über ihre Smartphones betreten und dessen Display Teil des Bühnenbilds ist.

Es gibt in dieser ersten Theaterproduktion von Butler, bei der sie nicht nur mitspielt, sondern auch das Stück verfasst und Regie geführt hat, ein paar weitere Abweichungen zur grimmschen Version. «Ich wollte auf keinen Fall, dass am Schluss ein männlicher Retter auftaucht», sagt sie, weshalb der Jäger gestrichen wurde. Und die Gefahrenlage ist heute zwar noch ähnlich, wurde aber ebenfalls ans digitale Zeitalter angepasst.

Während frühe schriftliche Versionen des Märchens die Intention hatten, junge Mädchen vor sexuell übergriffigen Männern zu warnen, lauern im virtuellen Wald Gefahren für Kinder jeden Geschlechts. Das Phänomen, um das es in «Red» geht, heisst Cyber Grooming. Mit dem Begriff wird die Kontaktaufnahme von Erwachsenen mit Minderjährigen übers Internet bezeichnet, hinter der klar sexuelle Absichten stehen. In einer Studie der ZHAW von 2020 gaben 44 Prozent der befragten Jugendlichen an, bereits Erfahrungen mit Cyber Grooming gemacht zu haben.

Worum es im Stück hingegen nicht geht, ist das Queersein. Dass Red sich als nonbinär definiert, wird kaum thematisiert. «Es ist einfach Teil der abgebildeten, vielfältigen Realität, genau wie die Tatsache, dass Reds Mutter Schwarz und alleinerziehend ist», sagt Butler.

Einen mindestens so entspannten Umgang mit unterschiedlichen Identitäten und Bildern konnte man eine Woche zuvor im Progr in Bern beobachten, wo ein weiteres Kinderprojekt von Butler über die Bühne ging. Nur der Umstand, dass auch Kinder an diesem Sonntagmorgen am Personal des Sicherheitsdienstes vorbeigehen müssen, erinnert daran, was im Oktober anlässlich von «Drag Story Time» im Zürcher Tanzhaus geschehen ist: Neonazis der Jungen Tat stürmten die Vorlesestunde, um gegen die «Gender-Ideologie» Stimmung zu machen, die ihrer Meinung nach bei der Veranstaltung beworben werde.

Der Vorfall hat dem Erfolg der Vorlesestunde keinen Abbruch getan. Der Andrang in Bern ist gross, die Plätze sind ausgebucht, und es gibt eine Warteliste. Butler hat laut eigenen Angaben mehr Anfragen als Kapazitäten, und ein anwesender Elternteil meint, nach dem Vorfall wolle man das Projekt erst recht unterstützen.

Die Magie des Verkleidens

Als Brandy Butler die Kinder begrüsst und sie bittet, mit ihr nach Dragqueen Tropikahl zu rufen, füllt lautes Kreischen den Raum – noch bevor die Dragperformer:in zum Vorschein tritt, elegant in hohen Schuhen und einem rosa Paillettenkleid. Tropikahl liest den Kindern das Buch «Julian ist eine Meerjungfrau» vor. Einige kennen die Geschichte schon, in der ein Junge von seiner Grossmutter dabei unterstützt wird, sich in eine Meerjungfrau zu verwandeln, indem sie ihm hilft, aus Vorhängen ein Kostüm zu basteln.

Der heimliche Höhepunkt des Vormittags folgt darauf: Die Kinder dürfen sich verkleiden mit Perücken, Kleidchen und Hüten, die unter einem Tuch versteckt waren. Verkleiden macht nicht nur Spass, es ist für Kinder auch entwicklungspsychologisch wichtig. Beim Eintauchen in magische Welten und Rollenspiele sammeln sie positive Erfahrungen und vertiefen ihr Einfühlungsvermögen. Über Drag spricht Butler nur in einer kurzen Erklärung, bevor Tropikahl den Raum betritt. Sie findet es pädagogisch nicht geschickt, Dinge zu «über»erklären. «Ich muss mit den Kindern nicht gross über das Thema reden, sie verstehen das schon richtig.»

www.dragqueenstorytime.ch «Red. Ein digitales Märchen» in: Zürich, Theater Neumarkt. www.theaterneumarkt.ch

Tosh Basco als Pinocchio
Popstar mit dem gewissen Funkeln: Tosh Basco als Pinocchio. Foto: Diana Pfammatter

«Pinocchio» : Goldkehle aus Holz

Woke! So, damit wäre das Reizwort deponiert, können wir jetzt über Theater sprechen? Im Parkett tönts erst mal wie ein Wald voll Äffchen: Schulvorstellung am Zürcher Schauspielhaus, mit dem traditionellen Kinderstück für die Festtage. Diesmal: «Pinocchio», nach dem Roman von Carlo Collodi – und damit wären wir beim zweiten Anklagepunkt, den zwei Zürcher Zeitungen jüngst in ihrer Kampagne gegen das Schauspielhaus vorbrachten. Zu wenige Theaterstücke würden da gespielt, Klassiker meist nur komplett entstellt. Und wie siehts bei den Kindern aus, dem bekanntlich unbestechlichsten Publikum überhaupt?

An «Pinocchio» zeigt sich, wie schief die Debatte ist. In der Regie von Wu Tsang kommt das sehr chic und zeitgeistig daher: die Bühne spiegelglatt, schwarz wie ein Handydisplay, auf der Rückwand fast abstrakte Videolandschaften. Und als Pinocchio (Tosh Basco) zum Popstar mit funkelnder Kehle aufsteigt, verliert er sich bald darauf als Fashion Victim im Kaufrausch. Beliebig wirkt nichts davon. Im Gegenteil, der scheinbar ausgeleierte Stoff entwickelt gerade darum eine so unverhoffte Strahlkraft, weil die Textfassung von Sophia Al-Maria das Buch und seine Motive ernst nimmt – und gerne auch beim Wort. Am Anfang war ein Stück Holz? Nein, in diesem «Pinocchio» lebt da zu Beginn buchstäblich: eine Pinie mit Augen. Die Geschichte setzt also mit dem Prequel ein – mit einer Ökofabel um den Schmerz des Baums, als er von Geppetto gefällt wird.

Später, als Pinocchio im Showbusiness ausgebeutet wird, landen wir beiläufig bei #MeToo, und dann gehts auch darum, wer eigentlich eingreifen darf, wenn die Hauptfigur sich nicht an die Geschichte hält, die über sie erzählt wird. Selbstermächtigung, der Bezug zur eigenen Herkunft, das Suchen und Finden (und Verlieren!) einer Identität: Collodis «Pinocchio» wird hier radikal entstaubt, und was zum Vorschein kommt, ist eine fantastisch schillernde Diskursmaschine auf der Höhe unserer Zeit. Nichts davon wirkt übergestülpt, fast alles ist gedeckt durch die Vorlage, auch die Geschlechterfragen: Wie gern wär ich doch flüssig, wieso nur bin ich immer noch aus Holz? Oder wie Kay Kysela als hyperaktive Amsel gleich zu Beginn rhetorisch fragt: «Sind wir denn jemals, wer wir sind?»

«Pinocchio» in: Zürich, Schauspielhaus, bis 2. Januar 2023. www.schauspielhaus.ch