Theorie: Der poröse Körper und das Kapital

Nr. 49 –

Menschen sind gesellschaftliche Werkzeugmacher:innen – aber gerade deshalb besonders verletzlich. Warum das so ist, beschreibt der dänische Philosoph Sören Mau in einem sehr lesenswerten Buch über «ökonomische Macht».

Was Kapitalismus in der Praxis heisst, zeigt schon ein rascher Blick in die industrielle Landwirtschaft: Global dominieren eine Handvoll Grossunternehmen den Markt, die alles dafür tun, dass das auch so bleibt. Monsanto etwa, 2018 vom deutschen Bayer-Konzern übernommen, entwickelte in den Neunzigern eine genetisch modifizierte Sojabohne, die nur mit einem ebenfalls von Monsanto hergestellten Herbizid kompatibel ist – eine brachiale Methode, die Kundschaft an sich zu binden. Kurz vor der Jahrtausendwende wurde zudem erstmals ein Patent auf sogenannte Selbstmordsamen erteilt: Saatgut, das völlig sterile Pflanzen produziert, wodurch Landwirt:innen jedes Jahr aufs Neue gezwungen wären, bei den Agrokonzernen einzukaufen.

Diese Beispiele zeigen dem dänischen Philosophen Sören Mau zufolge, wie die kommerzielle Biotechnologie die «Logik der Verwertung in den genetischen Code des Samens einzuschreiben» versucht – wie sich also das Kapital zwischen Mensch und Natur einnistet, um sich langfristig Profite zu sichern. Welche Folgen eine derart verstümmelte Pflanzenwelt schlimmstenfalls einmal haben könnte, mag man sich gar nicht ausmalen.

Anthropologische These

Für Mau sind diese Entwicklungen in der kommerziellen Landwirtschaft Ausdruck dessen, was er «ökonomische Macht» nennt. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Macht: eine, die nicht auf unmittelbare Gewalt oder Ideologie setzt, sondern die indirekt wirkt, indem sie die Mittel der menschlichen Reproduktion kapitalisiert. Und sie findet sich nicht nur in der Agrarindustrie, sondern steckte von Anfang an in der Logik des Kapitalismus.

Ausformuliert hat der erst 32-Jährige diese Theorie in seinem aktuellen Buch «Stummer Zwang. Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus». Sein – zunächst etwas philologisch anmutender – Ausgangspunkt ist die Frage, was die Formulierung vom «stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse», die sich bei Marx findet, genau bedeuten soll. Marx deutet mit diesem Bild im «Kapital» an, dass Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich anders strukturiert ist als davor, als die Produzent:innen des gesellschaftlichen Reichtums den Herrschenden als Sklavinnen oder Lehnsknechte unterworfen waren. Im Kapitalismus dagegen sind wir alle, rechtlich betrachtet, Freie und Gleiche, was die Sache vertrackter macht.

Das mag nach muffeliger Marxologie riechen, allerdings könnte das Problem, wie Herrschaft genau zu denken ist, kaum aktueller sein. Man denke nur an populistische Bewegungen oder Verschwörungstheorien, denen in aller Regel ein sehr simples Bild von Macht zugrunde liegt: Hier das Volk, dort die bösen Eliten, die obskuren Machenschaften nachgehen. Abseits aller sonstigen Absurditäten ist das eine viel zu einfach gestrickte Vorstellung davon, was Herrschaft bedeutet. Emanzipation setzt aber seit jeher voraus, dass man einen Begriff davon hat, wovon man sich überhaupt befreien will.

Sören Mau geht die Sache daher grundsätzlich an – und das heisst in seinem Fall, dass er den menschlichen Körper ins Zentrum rückt. Konkret geht es ihm um die besondere «körperliche Organisation» des Menschen, die schon Marx betont habe. Das klingt harmlos, zielt aber auf eine weitreichende anthropologische These. Entscheidend dabei ist die Idee, dass statt von einer ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur – eine romantische Vorstellung, die die Vormoderne verklärt – von einer «natürlichen Spaltung» auszugehen sei: Anders als andere Tiere ist der Mensch auf «extrasomatische Werkzeuge» angewiesen, also Werkzeuge, «die nicht unmittelbar mit dem menschlichen Leib verbunden sind».

Mau spricht von einem völlig übersehenen «corporeal turn», den Marx vollzogen habe – eine theoretische Wende hin zum Körper. Diese ist zentral für den Versuch des Dänen, eine «soziale Ontologie der ökonomischen Macht» zu entwickeln. Menschen seien «gesellschaftliche Werkzeugmacher:innen», die Instrumente nicht nur gebrauchen, weil es bequem ist. Vielmehr seien Werkzeuge «ein integraler Bestandteil des menschlichen Körpers» oder – wie es der US-Philosoph Lewis Mumford einmal formulierte – eine Erweiterung der «Kräfte des ansonsten unbewaffneten Organismus» namens Mensch. Werkzeuge sind somit faktisch Organe des Körpers, gleichzeitig aber auch von diesem getrennt, woraus sich eine besondere Prekarität unseres Daseins ergibt.

Denn für das Überleben kann die Verfügung über ein Material, einen Gegenstand oder eine Maschine genauso notwendig sein wie eine intakte Lunge oder ein gesunder Magen; anders als körperliche Organe im engeren Sinn können Erstere aber zum Privateigentum werden. «Die Porosität des menschlichen Wesens macht dieses eigentümliche Tier extrem anfällig für Eigentumsverhältnisse. Sie eröffnet die Möglichkeit einer neuen Form der Macht, die in der Fähigkeit einer sozialen Logik wie der des Kapitals besteht, sich zum Vermittler zwischen dem Leben und seinen Bedingungen zu machen», schreibt Mau.

Ursprüngliche Akkumulation

Historisch drängte das Kapital mit den Enteignungen und den Vertreibungen von Bauern an der Schwelle zur Moderne zwischen die Produzent:innen und die Bedingungen, ihr Fortkommen erwirtschaften zu können. Proletarierinnen – auf ihr nacktes Leben reduzierte Menschen ohne Verfügung über ihre Subsistenzmittel – fielen nicht einfach vom Himmel herab, sondern wurden durch diese «ursprüngliche Akkumulation» erschaffen. Dieser Schöpfungsprozess wird heute noch fortgeführt, er kommt aber vielfach ohne direkte Gewalt aus und ist daher auch weniger augenfällig.

Zwischen der ursprünglichen Akkumulation und gegenwärtigen Entwicklungen wie in den Beispielen aus der industriellen Landwirtschaft besteht aus Maus Perspektive kein systematischer Unterschied: Das Kapital nutzt hier wie dort die Verletzlichkeit des Gattungswesens Mensch aus, seine Angewiesenheit auf eine Umwelt, die es nutzen kann, um das eigene Leben zu erhalten. Das gilt genauso für die ganz alltäglichen Zwänge des Arbeitsmarkts. Kapitalistische Herrschaft nimmt uns die Kontrolle darüber, wie wir uns reproduzieren: Das ist der «stumme Zwang», den die Verhältnisse ausüben.

Maus ungemein anregendes Buch baut nicht nur Brücken von Marx zu vielen neueren Arbeiten – von Giorgio Agambens «Homo sacer»-Studien über Silvia Federicis «Hexen»-Monografie bis hin zu Michel Foucaults Analysen zur Fabrikdisziplin. Es schärft auch den politischen Blick, weil es den Fokus darauf legt, dass eine diffuse Elitenkritik bei weitem nicht ausreicht, sondern es uns um die Rückeroberung unserer Lebensbedingungen gehen muss: die Natur und die Körper, in denen wir leben, die Beziehungen, die wir führen, die Betriebe, in denen wir arbeiten.

Sören Mau: Stummer Zwang. Eine marxistische Analyse ökonomischer Macht im Kapitalismus. Aus dem Englischen von Christian Frings. Dietz Verlag. Berlin 2021. 360 Seiten. 46 Franken