Theorie: Klassenkampf als Ménage-à-trois

Nr. 46 –

Vorsicht vor «denen da oben»: Der französische Machtanalytiker Jacques Bidet ist erstmals auch auf Deutsch zu entdecken.

Portraitfoto von Jacques Bidet
Jacques Bidet fordert von seinem Publikum kozentrierte Lektüre, dafür belohnt er es mit ­provokanten Thesen. Foto: Laif

Ein gängiges Schema, die jüngere Geschichte des Kapitalismus zu ordnen, sieht in etwa so aus: Nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchte man in Europa und den USA, die Kapitalkräfte durch eine staatliche Interventionspolitik zu zügeln. In der Zeit nach 1945 wurden Wohlfahrtsstaaten im Geist des Keynesianismus aufgebaut. Diese wiederum wurden später auf Betreiben von Marktradikalen demontiert, was zur heutigen globalen Vielfachkrise wesentlich beigetragen hat. Ein erneutes Umdenken wäre daher dringend geboten – und folglich wieder eine entschlossene Umverteilungspolitik.

Folgt man Jacques Bidet, ist diese Geschichte zwar nicht ganz falsch, man macht es sich damit aber zu einfach. Der bislang im deutschsprachigen Raum kaum wahrgenommene französische Sozialtheoretiker hat in den vergangenen Jahrzehnten an der Ausformulierung einer Theorie der modernen Gesellschaft gearbeitet, die ein komplexeres Bild davon entwirft, wo genau gesellschaftlich Macht zu verorten ist. Ein auf die Bändigung oder die Entfesselung der Marktkräfte konzentrierter Blick liefert Bidet zufolge kein vollständiges Bild.

Herrschaft in der Moderne

Bidet ist mittlerweile Ende achtzig und blickt auf eine lange akademische Karriere zurück, er interveniert aber nach wie vor in die politische Diskussion in Frankreich: Auf der Nachrichtenseite «Mediapart» erörtert er derzeit etwa in einer Artikelserie die Krise des Linksbündnisses Nupes. Der Berliner Dietz-Verlag versucht nun, mit der Veröffentlichung einer Übersetzung einer knapp zehn Jahre alten Monografie Bidets Rezeption auch ausserhalb Frankreichs voranzutreiben.

Ohne Schwierigkeiten ist dieses Unterfangen allerdings nicht. Wenn der Berliner Philosoph Frieder Otto Wolf – Experte für die kritische Theorieproduktion westlich des Rheins – im Nachwort zur Studie mit dem Titel «Marx mit Foucault» schreibt, dass diese «geradezu didaktisch selbsterklärend» sei, dann ist das erstaunlich: Selbst mit Vorwissen über die verhandelten Problemstellungen und Autoren erfordert Bidets Buch eine sehr konzentrierte Lektüre.

Beisst man sich aber durch, wird man mit provokanten Thesen belohnt. Bidets zentraler Punkt ist, dass in der Frage, wie Herrschaft in der Moderne zu denken ist, häufig ein einseitiger Erklärungsansatz dominiere: Gerade die sozialistische Tradition lege den Fokus auf die Macht des Kapitals; so würde Karl Marx die herrschende Klasse anhand des Eigentums an Produktionsmitteln definieren. Dabei verkenne er aber deren anderen Pol, nämlich die «Entscheidungs-Kompetenz-Träger», die nicht wegen ihres Eigentums, sondern aufgrund ihres «Macht-Wissens» zur gesellschaftlichen Führungsschicht zählten. «Markt» und «Organisation» sind die zwei entsprechenden, genau zu unterscheidenden Achsen, entlang derer sich Bidet zufolge der Prozess der Moderne entfaltet; Machteffekte und Unterordnungsverhältnisse gehen von zwei Seiten aus.

Im Marxismus dominierte demgegenüber lange die Vorstellung, dass das Kapital die Tendenz zu immer weiterer Konzentration aufweise, bis schliesslich die Konkurrenz durch Monopole ausgehebelt sei und es «nur» noch der Unterwerfung der Produktion unter demokratische Kontrolle bedürfe: «Organisation» sollte den «Markt» ersetzen. Dann wären Ausbeutung und Ungleichheit Geschichte, und «an die Stelle der Regierung über Personen» würde «die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen» treten, wie es einst Friedrich Engels formulierte.

Diese auf das Macht-Eigentum beschränkte Perspektive ignoriert allerdings das Macht-Wissen des anderen Pols der herrschenden Klasse. Historisch hatte das schwerwiegende Folgen: In den autoritären Staatsbürokratien in der DDR oder der Sowjetunion war zwar das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft, trotzdem war man weit entfernt von einer befreiten Gesellschaft. «Im ‹real existierenden Sozialismus› brachte das Macht-Wissen der Organisationskader in den allermeisten Fällen eine neue herrschende Klasse und ein Hegemonialregime hervor, das seinen tödlichen Widersprüchen nicht entgehen konnte», schreibt Bidet.

Rücken an Rücken

Genauso lässt seine machttheoretische Differenzierung an der eingangs zitierten Schematisierung der kapitalistischen Entwicklung zweifeln: Die Nachkriegsära kann nicht ungebrochen als «Goldenes Zeitalter» gelten, in dem die Exzesse des Kapitals zum Wohl aller eingedämmt waren. Eher handelte es sich um eine historische Phase, in der die «Entscheidungs-Kompetenz-Träger» die Dominanz über die Kapitaleigentümer errangen. Wirklich freie Verhältnisse bedeutete das aber nicht: Anders wären wohl die libertären Aufstände von 1968 auch kaum zu erklären.

In der vom Dietz-Verlag publizierten Studie arbeitet Bidet diese Überlegungen in der Auseinandersetzung mit Marx und Michel Foucault heraus. Für Bidet sind die beiden ein Paar, das gleichsam Rücken an Rücken an verschiedenen Fronten kämpft: Während Marx die Macht des Eigentums ins Visier nehme, bringe Foucault mit seinem Interesse für Irrenärzte, Richter oder Stadtplaner «diejenigen Machteffekte ans Licht, die mit dem anderen, der modernen Gesellschaft innewohnenden Klassenprozess verbunden sind: dem des Macht-Wissens».

Bei Foucault konzentriert sich Bidet auf die Arbeiten der siebziger Jahre: Zunächst waren diese deutlich marxistisch geprägt, etwa die Vorlesung über die «Strafgesellschaft», in der es heisst, die «Gefängnis-Form der Bestrafung» entspreche der «Lohn-Form der Arbeit». Ab «Überwachen und Strafen» (1975) rangierte Foucault dann aber die marxistische Terminologie aus, was ihm schnurstracks die Kritik einbrachte, mit unscharfen Begriffen wie dem der «Disziplin» zu hantieren.

Jacques Bidet nimmt Michel Foucault hier in Schutz: Dessen intellektuelles Projekt sei gerade deswegen so fruchtbar, weil es «eine andere Macht als die Macht ‹des Kapitals›» aufzeige – eben diejenige derer, die zwar nicht Fabriken besitzen, aber als soziale Kom­­petenzträger:innen gelten und als Expert:innen oder Fachleute in verschiedenen Funktionen über das Leben anderer verfügen. «In der modernen Gesellschaft gibt es zwei Klassen, doch der Klassenkampf ist eine ménage à trois», folgert er, «denn die privilegierte Klasse besteht aus zwei unterschiedlichen Kräften, die auf zwei unterschiedlichen Typen gesellschaftlich reproduzierbarer Privilegien fusst.»

Spaltung der Linken

Zugespitzt formuliert, gilt es also nicht nur, den Industriellen ihre Maschinen zu nehmen, sondern auch, die Befugnisse der Technokrat:innen demokratisch zurechtzustutzen. Wie das realpolitisch genau gehen soll, bleibt in Bidets Studie eher vage. Sie wirft aber interessante Fragen auf. Etwa die, ob die von rechts unablässig bemühte «Elitenkritik» vielleicht nicht doch mehr als nur eine Schimäre ist, die den gesellschaftlichen Unmut von den Superreichen ablenken soll: Verweist das Unbehagen an «denen da oben» nicht auch auf einen realen Kern, nämlich die politisch nur unzureichend thematisierte Macht vermeintlich über den Verhältnissen schwebender Expert:innen?

Für Bidet ist überdies die Spaltung der Linken zwischen eher klassisch-sozialistisch orientierten Kräften und denjenigen, die sich im weitesten Sinn der «Identitätspolitik» verschrieben haben, auf die doppelte Polung moderner Macht zurückzuführen. So reiht sich sein Buch auch in die Versuche ein, an dieser Bruchstelle neue Brücken zu bauen.

Jacques Bidet: «Foucault mit Marx». Aus dem Französischen von Andreas G. Förster und Lilian Peter. Dietz Verlag. Berlin 2023. 214 Seiten. 44 Franken.