Erdogans «neue Türkei»: Der Präsident, der wild um sich schlägt

Nr. 28 –

Der Protest gegen den autokratischen türkischen Herrscher Recep Tayyip Erdogan nimmt zu. Kann sich die Opposition auf eine gemeinsame Strategie einigen?

Die Massendemonstration in Istanbul vom vergangenen Sonntag ist ein Zeichen der Hoffnung für die Türkei. Zu ihr hatten die beiden traditionell verfeindeten Oppositionsparteien, die kemalistische CHP und die kurdische HDP, gemeinsam aufgerufen. Nur über eine Zusammenarbeit der beiden grössten Oppositionsparteien liessen sich neue Mehrheitsverhältnisse allenfalls in eine Abwahl von Recep Tayyip Erdogan übersetzen. Die HDP sprang über ihren Schatten, als sie zuletzt einige Etappen des «Marsches für Gerechtigkeit» begleitete, der von Ankara nach Istanbul führte, wo der stellvertretende Vorsitzende der CHP inhaftiert ist. Allerdings konnte sich die CHP ihrerseits nicht dazu durchringen, den Marsch bis zum Gefängnis in Edirne fortzusetzen, wo der Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, inhaftiert ist. CHP-Chef Kilicdaroglu verlangte stattdessen einmal mehr, dass sich die HDP klarer von der PKK distanzieren müsse.

Solange sich die Opposition weiterhin so leicht über den Kurdenkonflikt spalten lässt, wird sie Erdogan nicht aus eigener Kraft beseitigen können. Sie kann dann nur noch darauf hoffen, dass Erdogan über seine eigene Politik stolpert – weil ihm irgendwann vielleicht seine Strategie, die Repressionen immer weiter zu verschärfen, zum Verhängnis wird.

«Feiern» zum Putschversuch

Der Präsident selbst lässt dieser Tage den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 feiern – als eine Art Geburtstag seiner «neuen Türkei». Erdogan nannte die Ereignisse damals unverhohlen ein «Geschenk Gottes», weil sie ihm die Gelegenheit boten, die Armee und den Staat umzukrempeln. Doch die Vision einer demokratischen Türkei starb für viele seiner GegnerInnen bereits ein Jahr früher. Nachdem seine AKP im Juni 2015 die absolute Mehrheit im Parlament verloren hatte, setzte Erdogan kurzerhand Neuwahlen an und entfachte den Kurdenkonflikt neu, um türkische NationalistInnen hinter sich zu scharen. Im Juli 2015 erklärte er den Friedensprozess mit der PKK für gescheitert. Der wiederbelebte Krieg im Südosten vertrieb in der Folge 400 000 Menschen und kostete knapp 2000 das Leben. Das historische Zentrum Diyarbakirs, das die PKK im August 2015 für autonom erklärt hatte, wurde fast vollständig zerstört. Dass Erdogan die kurdischen Parteien pauschal als Terroristen verunglimpfte, verfehlte das Ziel nicht: Die Neuwahlen im November 2015 brachten der AKP eine komfortable, wenn auch nicht die absolute Mehrheit.

Ein dankbares Feindbild

Die rund achtzehn Prozent KurdInnen innerhalb der Türkei boten angesichts eines grassierenden Nationalismus immer schon ein dankbares Feindbild. So verwerflich die Hetze gegen KurdInnen ist, so risikoarm ist sie aus taktischer Perspektive. Nach dem Putschversuch hat Erdogan aber nicht nur jegliche Skrupel, sondern auch sein taktisches Gespür verloren: Plötzlich begann er wild um sich zu schlagen, niemand wusste sich mehr sicher vor seiner blinden Vergeltungswut. 50 000 Menschen wurden seit der Ausrufung des Ausnahmezustands verhaftet, darunter mehr als 230 JournalistInnen. Weit über 130 000 Staatsangestellte verloren ihren Job, etwa 600 Stiftungen, 1100 Vereine und 20 Gewerkschaften wurden von den Behörden geschlossen. Das Spektrum der betroffenen Menschen ist kaum mehr zu überblicken: Nicht nur Mitglieder der grössten Oppositionspartei CHP, die vor dem Putsch noch geschont wurden, müssen permanent mit ihrer Verhaftung oder Entlassung rechnen, sondern auch Mitglieder der regierenden AKP sind nach dem Putschversuch in Ungnade gefallen.

Noch bleibt Zeit

Lange spürte eine Mehrheit der TürkInnen – gerade auch die Elite –, wie ihr Wohlstand unter Erdogan zunahm. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seit dem Amtsantritt Erdogans als Premierminister im Jahr 2003 mehr als verdoppelt. Die Zeche für den Aufschwung bezahlten vor allem marginalisierte Bevölkerungsgruppen, etwa indem ihre Häuser niedergewalzt und sie selbst an die Peripherie der Städte verdrängt wurden.

Spätestens nach dem Putschversuch haben sich die Zahlenverhältnisse jedoch gedreht. Während inzwischen nur noch eine kleine Oligarchie Gewinne abschöpft, fühlt sich wohl eine Mehrheit der Bevölkerung von der Willkür des Regimes bedroht. Dass Erdogan sein Verfassungsreferendum vom vergangenen April nur mittels exzessiver Unterdrückung der Opposition, massiver Einflussnahme und Wahlbetrug knapp gewinnen konnte, ist ein Indiz dafür, dass ihm die Unterstützung der Bevölkerung entgleitet. Alle grossen Städte haben gegen die Reform gestimmt. Anders als einige BeobachterInnen erwartet hatten, mässigte sich Erdogan nach dem Referendum nicht wieder. Im Gegenteil, der Ausnahmezustand wurde erneut verlängert, und erst am vergangenen Sonntag wurde eine neue Verhaftungswelle gegen AkademikerInnen publik. Die Angst bleibt allgegenwärtig.

Viele der im April angenommenen Verfassungsänderungen, die die Gewaltentrennung auch formell weitgehend aufheben sollen, treten allerdings erst mit den Wahlen in Kraft, die für 2019 vorgesehen sind. Noch bliebe also Zeit, Erdogans Allmachtsanspruch zurückzudrängen.