Klimarückblick: Hagelstürme und Gletscherschwund

Nr. 51 –

Das Jahr 2021 war auch in der Schweiz von extremen Wetterereignissen geprägt. Ein Besuch am Morteratsch, im Luzernischen und auf einer Apfelplantage im Wallis.

  • Wenn die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden kann, liesse sich in den Alpen etwa ein Drittel des Eises retten: Der Morteratschgletscher in der Berninagruppe. Foto: Florian Wüstholz
  • Eisvolumen der Schweizer Gletscher Quelle: Glacier Monitoring Switzerland, 2021
  • Hagelschäden Quelle: Mobiliar und «Schweizer Hagel»
  • Frühlingsbeginn Quelle: Bundesamt für Meteorologie und Klima­tologie

Am Morteratschgletscher ist der Winter eingekehrt. Wo vor wenigen Wochen noch Bächlein sprudelten, liegt Ende November ein halber Meter Pulverschnee. Vereinzelt zwitschern Vögel von den kahlen Lärchen und Erlen. Erste Langläufer:innen gleiten über die Loipe, die durchs Val Morteratsch bis zur Gletscherzunge führt. Hinter dem Piz Palü kämpft die Sonne mit der Wolkendecke.

Der Wanderweg hinauf zur Zunge des Gletschers ist eine Zeitreise durch die Vergangenheit. Vor 170 Jahren reichte der grösste Gletscher der Ostschweiz bis zur heutigen Station der Rhätischen Bahn im Berninatal. Man hätte aus der «kleinen Roten» direkt aufs Eis stapfen können. Seither hat sich der Gletscher um fast drei Kilometer zurückgezogen und ein Zeugnis der Klimaerhitzung hinterlassen: gigantische Seitenmoränen, vom Eis geschliffene Felsen und ein Gletschervorfeld, wo sich die Vegetation den Boden seit Jahrzehnten zurückerobert. Früher füllte eine 150 Meter dicke Eisschicht das Tal.

Alle paar Hundert Meter erinnern Jahrestafeln an den Rückgang: Erst in Abständen von zwanzig Jahren, dann zehn und schliesslich fünf. Denn die Schmelze hat an Fahrt aufgenommen. Und auch in diesem Jahr verlor der Morteratschgletscher an Masse – und das, obwohl das Wetter das Gegenteil hätte vermuten lassen: «Vor allem im Spätwinter fiel aussergewöhnlich viel Schnee», erklärt Matthias Huss. «Auf gewissen Gletschern fiel noch bis Ende Mai Neuschnee.» Der 41-Jährige ist Glaziologe an der ETH Zürich, seit seiner Jugend begeisterter Alpinist und leitet das Schweizerische Gletschermessnetz (Glamos).

Seit fünfzehn Jahren vermisst Huss die Gletscher in der Schweiz – aktuell werden an rund zwanzig Gletschern jedes Jahr akribisch die Schneeakkumulation und die Schmelze dokumentiert. Dass einer mal wächst, ist eine absolute Ausnahme. «Bloss bei zwei oder drei Gletschern gab es mal in einem einzelnen Jahr eine positive Massenbilanz», sagt er.

Schmelze trotz des guten Sommers

Auf manchen Gletschern stand er schon vierzig oder fünfzig Mal. Langweilig findet er das nicht: «Es ist faszinierend, immer wieder an die gleichen Orte zu gehen. Erst so sehe ich die Veränderungen.» Am Morteratschgletscher zum Beispiel seien seit einigen Jahren riesige Löcher in der Zunge sichtbar. Huss nennt sie «Auflösungstendenzen». Sie deuten auf den schlechten Zustand des Gletschers hin. Von Piz Bernina und Piz Zupò fliesst nicht genügend Eis nach, um die Verluste an der Zunge auszugleichen. Und durch die Luftzirkulation in den tiefen Löchern nimmt die Schmelze wahrscheinlich noch zu.

Für die Gletscher sind die Frühlingsmonate besonders wichtig. Sie entscheiden darüber, wie stark die Sonneneinstrahlung im Juni und Juli auf die Gletscher einwirkt. «Wenn im Mai viel Schnee vernichtet wird, hat das einen negativen Einfluss», so Huss. Dieses Jahr war das glücklicherweise anders. Als Huss im September seine Messungen auf 3400 Metern Höhe unter dem Piz Palü machte, fand er eine vier Meter lange Messstange, die er im Frühling eingebohrt hatte, nicht mehr. Sie wurde komplett eingeschneit. Jetzt im Winter gilt es, die im Frühling und Herbst gesammelten Daten auszuwerten. Was schon heute feststeht: Trotz des guten Winters und Frühsommers schmolzen auch 2021 die Gletscher in der Schweiz (vgl. Grafik oben).

«Der diesjährige Sommer war rund zwei Grad zu warm gegenüber dem langjährigen Mittel, obwohl er sich kühl und feucht angefühlt hat», erklärt Huss. Das sei weniger als in den vorangegangenen vier Jahren, in denen ein Hitzerekord den nächsten jagte. Seit mehreren Jahren beobachtet er deshalb auch an den Gletschern ein Extremjahr nach dem anderen. «Von 2017 bis 2020 hatten wir jedes Jahr Massenverluste zwischen zwei und drei Prozent des verbleibenden Eisvolumens.» Dieses Jahr waren es bloss 0,8 Prozent. Ein Grund zur Freude ist das nicht, denn es zeigt, dass sich auch in einem relativ gletscherfreundlichen Jahr die Schmelze fortsetzt.

Für ihn als Forscher sei es natürlich interessant, wenn sich etwas verändert. «Aber für mich als Privatperson und Mensch mit einer Beziehung zu Bergen und Gletschern ist das sehr frustrierend», sagt Huss. Er schliesst nicht aus, dass manche Gletscher in manchen Jahren auch mal an Dicke gewinnen könnten. Aber für eine Trendwende müssten die Bedingungen für mehrere Jahre und Jahrzehnte besser werden. Geschieht dies nicht, wird die Klimaerhitzung den Gletschern weiter zusetzen. Wenn die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden kann, liesse sich in den Alpen immerhin etwa ein Drittel des Eises retten, erklärt Huss. «Natürlich wäre eine Schweiz ohne Gletscher traurig. Aber wir könnten das wohl verkraften.» Wichtig sind sie aber vor allem, weil sie den Menschen zeigen, welche grossen Veränderungen die Klimaerhitzung auslöst. «Darin liegt der Wert der Gletscher.»

Den Hagel verstehen

Blachen und Gerüste umhüllen zahlreiche Gebäude im luzernischen Wolhusen. Auch Monate nach dem Hagelsturm vom 28. Juni sind erst die Hälfte der verwüsteten Dächer repariert. Es fehlt an Dachdecker:innen und Holz. Wer auf die Reparatur warten muss, dem tropft es zuweilen in die Wohnung. Das zeigt ein im November im SRF ausgestrahlter Beitrag.

Bis zu neun Zentimeter gross waren die Körner, die während des zehnminütigen Hagelsturms auf Wolhusen stürzten. Das ist grösser als ein Baseball. Hagelkörner von sieben Zentimetern Durchmesser und mehr fallen statistisch gesehen hier nur alle fünfzig Jahre vom Himmel.

Doch das Ereignis in Wolhusen war kein Einzelfall. Es reiht sich ein in die lange Liste von Hagelstürmen, die den Sommer 2021 geprägt haben – und viel Geld kosten. Seit Aufzeichnungsbeginn vor zwanzig Jahren wurde noch nie eine so immense Fläche von grossen Körnern verhagelt wie im Juni. Die Mobiliar-Versicherung rechnet mit Schäden in der Höhe von 208 Millionen Franken. In den Vorjahren bewegten sich die Schadenssummen maximal im zweistelligen Millionenbereich. Und die Versicherung «Schweizer Hagel», welche Schäden bei landwirtschaftlichen Kulturen deckt, verzeichnete das schadensreichste Jahr in ihrer 140-jährigen Geschichte: 110 Millionen Franken zahlte sie den Bäuer:innen für deren Schäden (vgl. Grafik oben).

Warum gerade in diesem Jahr so viel und so starker Hagel fiel, will Olivia Romppainen-Martius herausfinden. Die 43-Jährige ist seit zehn Jahren Professorin für Klimafolgenforschung an der Universität Bern und erforscht Wetterextreme am dort angegliederten Mobiliar Lab für Naturrisiken, das von der gleichnamigen Versicherung finanziert wird. An ihrer Bürotür hängen Kinderzeichnungen, ihr Schreibzeug steht in einem wolkenförmigen Holzbehälter, und im Regal drängt sich Buchrücken an Buchrücken, darunter ein dicker Schinken mit dem Titel «Storm Cloud Dynamics».

«Hagelstürme kommen in der Schweiz sehr unregelmässig vor», erklärt Romppainen-Martius. In manchen Jahren gebe es fast keine, in anderen dafür umso mehr. Zur Frage, warum im Sommer 2021 die Stürme so heftig waren, habe sie eine Liste von Hypothesen erarbeitet, «sie sind aber noch nicht verifiziert», sagt sie. Ein Grund könnte darin liegen, dass nach dem regenreichen Frühsommer viel Feuchtigkeit in der Luft über Europa lag. Dazu sorgte die Wärme über dem Atlantik für viele Wetterfronten in der Schweiz – die wohl die Hagelstürme auslösten. Und weil sich die Wetterlage über Europa lange Zeit kaum veränderte, traten während mehrerer Tage hintereinander schwere Hagelstürme auf.

Die Forscherin holt zu weiteren ausführlichen und differenzierten Erklärungen aus. Schnell wird klar: Die Entstehungsprozesse von Hagel hängen von vielen Faktoren ab, deren Einfluss noch nicht abschliessend geklärt ist. Ob sie die Intensität des Hagelsommers 2021 überrascht hat, kann sie nicht eindeutig sagen: «Hagelstürme sind Zufallsprozesse. Was den Zufallsprozess beeinflusst, wissen wir noch nicht.»

Ein Problem ist auch, dass aktuell zu wenige Daten vorliegen. «Je unregelmässiger Ereignisse eintreten, desto grösser muss die Datenmenge sein, um einen Trend festzustellen.» Unter den aktuellen Umständen kann Romppainen-Martius höchstens eine Tendenz sehen. Diese deute in die Richtung, dass die Zahl der Hagelereignisse sowie die Grösse der Hagelkörner in Europa mit der fortschreitenden Klimaerhitzung zunehmen werden. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die Luft mit der Erwärmung der Atmosphäre mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann. Die Gewitterstürme werden intensiver, wodurch die Hagelkörner im Gewitter länger Zeit haben, an Masse zuzunehmen. Doch die Zusammenhänge sind komplex, und Extremjahre wie 2021 bleiben schwer interpretierbar.

Um die Datenlage in der Schweiz zu verbessern, wurde die App von Meteo Schweiz 2015 um eine Funktion erweitert: Wer ein Hagelereignis beobachtet, kann es dort melden. Am 28. Juni gingen 11 000 Meldungen ein. Seit diesem Sommer ist auch ein Hagelmessnetz in Betrieb. Achtzig Sensoren messen in den Hagelhotspots in Tessin, Entlebuch, Napf und Jura die Hagelkorngrössen und Hageleinschläge.

Olivia Romppainen-Martius erwartet, dass sie dank dieser Messungen Hagelereignisse besser verstehen kann. Auch jene des Sommers 2021. Ob ihre Hypothesen zutreffen, wisse sie aber wohl erst in drei bis vier Jahren.

Aprikosenklau

Marie-Noëlle Brunner (67) schreitet durch die Baumreihen ihrer neun Hektaren grossen Apfelplantage. Nebenan kickt der FC Siders. Wer den Blick hebt, erkennt die Bergbahnen von Crans-Montana am Horizont. Bei einem Metallstab bleibt sie stehen und zückt ihr Smartphone. Auf der Hülle klebt ein pinkfarbenes Post-it mit Zahlen. «Das ist mein Spickzettel.»

Am Metallstab sind zahlreiche Messgeräte angebracht. Sie zeichnen unter anderem den Wassergehalt und die Temperatur des Bodens und der Luft auf und übertragen die Resultate direkt auf Brunners Smartphone. Ein Vergleich mit den Erfahrungswerten auf dem Spickzettel, und sie weiss, wie viel Wasser die Bäume benötigen oder wann sie die Sprinkleranlage aktivieren muss, um die Äpfel vor dem Frost zu schützen.

Brunner hat die Apfelplantage Ende der achtziger Jahre von ihrem Vater übernommen – «als Hobby», wie Brunner sagt, die bis zu ihrer Pensionierung vor drei Jahren an der Fachhochschule in Siders Französisch unterrichtete. Seit damals kommt der Frühling in der Schweiz immer früher. In manchen Jahren ganze zehn Tage, auch 2021 setzte er rund vier Tage zu früh ein (vgl. Grafik oben). Die Pflanzen spriessen früher und werden entsprechend öfter vom wiederkehrenden Frost heimgesucht. Der Klimawandel führt auf diese Weise zu grösseren Frostschäden, wie eine neue Studie des Max-Planck-Instituts und von fünf weiteren europäischen Forschungsinstitutionen für Frankreich aufgezeigt hat.

«Frost gab es hier schon immer oft», sagt Brunner. «Aber er war noch nie so intensiv wie in diesem Jahr.» Ab einer Lufttemperatur von minus einem Grad Celsius berieselt die Sprinkleranlage Brunners Äpfel mit Wasser. Das schützt die jungen Knospen vor grosser Kälte. Brunners Vater installierte die Anlage in den sechziger Jahren. «Hier in der Region schützen fast alle Bäuer:innen ihre Kulturen auf diese Weise vor dem Frost.»

Ihre Rebstöcke kann sie aber nicht schützen. «Die Reben stehen am Hang. Wenn die Kälte vom Berg runterkommt, kann ich nichts machen.» Immerhin sei die Ernte jener Traubensorten, die spät zu wachsen beginnen, herrlich gewesen. Von den Cornalin- und den Petite-Arvine-Trauben fiel jedoch mehr als die Hälfte der Kälte zum Opfer.

Das Jahr 2021 war für den Schweizer Obstbau allgemein ein schlechtes Jahr. Die Erträge der Aprikosen erreichten rund ein Drittel des Fünfjahresmittels, bei den Zwetschgen war es nur wenig mehr. Im Kanton Bern fiel die Traubenernte so schlecht aus wie seit dreissig Jahren nicht mehr. Der Schweizer Obstverband rechnet mit Schäden in zweistelliger Millionenhöhe. Entsprechend gross ist die Verzweiflung: Immer wieder gab es Meldungen von Diebstählen bei Aprikosen und Trauben, ganze Plantagen wurden leer geräumt.

Nach dem Frost waren im Sommer viel Regen und die Hagelstürme gefolgt – viele Früchte und Bäume wurden zerstört. Vom Hagel getroffen wurde Brunner persönlich allerdings vor allem vor zwei Jahren. Innerhalb von zwei Minuten hatte er die Hälfte ihrer Ernte zerstört. Bald will Brunner Hagelnetze anschaffen, doch die seien teuer. «In der Vergangenheit war Hagel kein Problem. Aber in den letzten Jahren ist nichts mehr wie früher. Ich merke, dass der Klimawandel da ist.»

Um die finanzielle Belastung der Bäuer:innen abzufedern, will der Schweizer Obstverband den Staat in die Pflicht nehmen. Das Raumplanungsgesetz soll die Errichtung von Schutzvorkehrungen wie Hagelnetzen vereinfachen, der Bund sich an den Prämien der Ernteversicherungen beteiligen. Doch weil die Agrarpolitik des Bundes seit Anfang Jahr blockiert ist, dürfte es Jahre dauern, bis Massnahmen getroffen werden. Schon heute will Brunner etwas unternehmen. Nebst Anpassungen an die sich verändernden Klimabedingungen, will sie ihren persönlichen CO2-Ausstoss verringern. Solarzellen bedecken das Dach ihres Wohnhauses. Und sobald wie möglich möchte sie einen Traktor mit Elektromotor anschaffen.

Am Ende des Wanderwegs zum Morteratschgletscher steht eine Brücke. Sie führt über die Ova da Morteratsch und markiert das Ende des Pfades. Wer darauf steht, sieht die Zunge des Gletschers bereits nicht mehr. In den letzten Jahren hat sie sich mit grosser Geschwindigkeit über eine hundert Meter hohe Felsstufe zurückgezogen – allein 2015 und 2016 schmolzen 300 Meter weg. Bald muss der Wanderweg wohl verlängert werden.

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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