Wie wir leben werden (7): Ein Weinberg wird zum Wald

Nr. 38 –

Extremes Wetter macht dem Weinbau zu schaffen. Besuch bei einem Winzer, der zweimal fast seine ganze Ernte verloren hat. Und nun nach neuen Ansätzen sucht. 

Winzer Stephan Herter in seinem Rebberg
«Wir müssen begreifen, dass der Boden die Grundlage unseres Lebens ist»:
Winzer Stephan Herter.

Stephan Herter ist zufrieden. Mit den reifen Weintrauben, die von den Rebstöcken baumeln, und dem Wetter, das ihnen Ende Sommer nun doch noch gnädig gestimmt war. Der bärtige Winzer wandert durch die hohen Reben des Taggenbergs, die er vor vierzehn Jahren übernommen hat: unten knorrige, von Moos bewachsene Strünke, aus denen junge Triebe in den wolkenlosen Septemberhimmel spriessen, dazwischen weisse und blaue Trauben. Das sei ein schlimmes Jahr gewesen, sagt Herter, aber es deute viel darauf hin, dass sich ihr ökologischer Ansatz auszahlen werde: «Es sieht aus, als hätten wir einen tollen Ertrag.»

Das ist nicht selbstverständlich. Der Taggenberg nahe Winterthur ist zwar mit seinem nährstoffarmen Boden aus Jurakalk bestens für den Rebbau geeignet. Auch von der dröhnenden Autobahn und den Fabriken an der Töss lassen sich die gut vierzigjährigen Reben nicht stören. Doch die Klimaerwärmung führt nicht nur zu langen Regen- und Trockenperioden, sie macht auch den Frühling zum Sommer und bringt vermehrte Extremwetterereignisse mit sich. Zweimal schon hatte Herter deshalb einen fast kompletten Ernteausfall. «2016 hatten wir zum ersten Mal Probleme», erzählt der 44-jährige Winzer,: «Im März war es viel zu warm. An zwanzig Tagen über zwanzig Grad!» In der Folge trieben die Reben schon sehr früh aus. Als dann der Frost nochmals zuschlug, verlor Herter 65 Prozent der Ernte.

Den zweiten Verlust erlitt das Weingut 2021. Ein Hagelsturm fegte über den Taggenberg hinweg und hinterliess eine Schneise der Verwüstung. «Wir sind hier eigentlich kein klassisches Hagelgebiet», sagt der Winzer. Deshalb hatten sie auch keine Hagelschutznetze installiert. «Innerhalb einer Viertelstunde haben wir 450 000 Franken Umsatz verloren.»

Obstbäume und Paradiesstreifen

Die Reben waren nicht nur kahlgefegt, der peitschende Hagel schälte ihnen regelrecht die Rinde vom Holz. Eine weisse Flut begrub das Gras zwischen den Spalieren unter sich. Herter schüttelt immer noch ungläubig den Kopf, wenn er daran zurückdenkt: «Ein Mensch hätte diesen Hagelsturm nicht überlebt.» Die Marke Herter-Wein vielleicht auch nicht – wären da nicht die zahlreichen Unterstützer:innen gewesen, die Herter und seinen Mitarbeiter:innen beide Male im Rahmen eines Crowdfundings finanziell unter die Arme griffen.

Drei Jahre später ist nicht mehr viel von den Hagelschäden zu sehen. Die Pflanzen am unteren Teil des Hangs, die nur leicht verletzt wurden, haben sich erholt. Die anderen wurden durch junge Reben ersetzt – nun durch Netze geschützt. «Der Hagelschaden gab uns auch die Möglichkeit, einige Dinge neu anzugehen», erklärt Herter. So wurde in den neuen Rebpflanzungen ein Drittel der Fläche für sogenannte Paradiesstreifen aufgewendet. Einheimische Sträucher und Obstbäume wechseln sich in diesen mit Steinhaufen und hoch aufgeschichtetem Totholz ab – Lebensräume für Vögel, Reptilien und Wiesel.

Vitiforst oder auch Agroforst wird das in Fachkreisen genannt. Die Idee, Bäume und Sträucher in Rebbergen zu pflanzen, ist keineswegs neu. Tatsächlich wurden solche landwirtschaftlichen Mischformen bis zur industriellen Revolution häufig praktiziert – bis die Obstbäume der Effizienz weichen mussten. Mit der Klimaerwärmung wird der Vitiforst wieder neu entdeckt. Auch am Schweizerischen Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick werden die positiven Auswirkungen von Bäumen im Weinbau untersucht. Neben einer Erhöhung der Biodiversität sollen Bäume das Mikroklima stabilisieren, die Reben vor starker Sonneneinstrahlung und Frost schützen und nicht zuletzt auch gegen Bodenerosion wirken. Ganz schön viel Verantwortung, die auf diesen dünnen Zweigen der Taggenberger Obstbäume ruht.

Weniger Ertrag, mehr Biodiversität

Der grösste Feind der Reben ist allerdings der Mehltau. Der aggressive Pilz mag es besonders, wenn es lange nass bleibt – wie zu Beginn dieses Sommers, als die Ernteaussichten noch recht trüb waren. «Bisher hatten wir vor allem mit dem Falschen Mehltau zu tun», erklärt Herter. «Mit der Klimaerwärmung wandert nun auch der Echte Mehltau aus dem Süden langsam bei uns ein.» Ums Spritzen kommt deshalb auch ein «Ökofuzzi», wie Herter sich selbst nennt, nicht herum. Er behandelt die Reben mit selbstgemischten Tinkturen und Stärkungsmitteln sowie mit einer Kalk-Schwefel-Mischung. Die von einer weissen Schicht überzogenen Blätter verströmen einen Geruch, der an Streichhölzer erinnert.

Es gäbe auch andere Lösungen. So setzen immer mehr Winzer:innen speziell gezüchtete pilzwiderstandsfähige Traubensorten ein. Der Vorteil: Sie müssen kaum gespritzt werden. Herter möchte am Taggenberg einen anderen Ansatz verfolgen: weniger Ertrag, mehr Biodiversität. Die Natur soll in den Rebberg zurückkehren. Und sich selbst helfen. Der Mensch muss dabei vielleicht auch mal einen Schritt zurückmachen. «Wir müssen begreifen, dass der Boden die Grundlage unseres Lebens ist. Wir dürfen nicht das Letzte aus ihm herausholen, nur um etwas mehr Ertrag und Einnahmen zu generieren.»