Kommentar zur AHV-Reform: Bürgerliches Risiko

Nr. 51 –

Die Bürgerlichen haben bei der Berufsvorsorge und der AHV ihre Forderungen durchgesetzt. Dafür könnten sie teuer bezahlen.

Schweizer Rentner:innen werden immer reicher. Das ist die Botschaft, die viele Medien in den letzten Tagen aufgrund einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz verbreiteten. Im Schnitt besitzt demnach eine alleinstehende 65-jährige Person 400 000 Franken Vermögen. Die Schlagzeilen verfestigen das Vorurteil vom lustigen Rentner:innenleben, von einem paradiesischen Lebensabend, von Fernreisen und Shoppingtouren. Das mag auf jene zutreffen, die erben und im Alter ihr Vermögen weiter wachsen sehen.

Wie die Studie zeigt, verfügt ein Fünftel der AHV-Bezüger:innen über ein Vermögen von nahezu null. Es handelt sich vor allem um jene Rentner:innen – überwiegend Frauen – mit ohnehin schon tiefen oder sehr tiefen Renten. Auf jene, die ihr Leben lang für andere gesorgt und zu einem bescheidenen oder tiefen Lohn gearbeitet haben, warten materielle Sorgen. Viele sind auf Transferleistungen angewiesen, etwa auf Ergänzungsleistungen: Allein im vergangenen Jahr flossen 3,2 Milliarden Franken an Rentner:innen. Das bedeutet nichts anderes als: Das Rentenniveau ist zu tief. Die Anhebung der Renten wäre also die politische Aufgabe.

Auskömmliche Renten für alle, das ist ein Anspruch, den eines der reichsten Länder der Welt nicht einlösen kann – nicht einlösen will. Dieser Unwille manifestiert sich gerade im bürgerlich dominierten Parlament. In der eben zu Ende gegangenen Session hat das Parlament eine AHV-Reform auf Kosten der Frauen durchgesetzt. Sie sollen ein Jahr länger arbeiten, wofür eine Übergangsgeneration von neun Jahrgängen monatlich gerade mal zwischen 50 und 160 Franken zusätzliche Rente erhalten soll. In die gleiche Richtung zielt die Reform der Pensionskassen, wo die Renten aufgrund schwindender Anlagemöglichkeiten seit langem sinken. Der Arbeitgeberverband und die Gewerkschaften hatten einen Kompromiss ausgehandelt, um die unbestrittene Senkung des Umwandlungssatzes auszugleichen. Demnach hätten alle künftigen Rentner:innen einen lebenslangen Rentenzuschlag erhalten, finanziert durch einen Lohnabzug von 0,5 Prozent. Die Bürgerlichen wollen zwar auch Zuschläge gewähren, allerdings nur jenen rund 35 bis 40 Prozent der Versicherten, die über keine überobligatorischen Ersparnisse verfügen (siehe WOZ Nr. 48/2021 ).

Diese Reformen beträfen nicht nur das unterste Fünftel – bereits heute muss die Hälfte der Rentner:innen mit 3500 Franken oder weniger im Monat auskommen. Sie sind auch ein Angriff auf den Mittelstand. Auf der Hochpreisinsel Schweiz mit steigenden Kassenprämien und hohen Mieten kann ein erheblicher Teil der Rentner:innen nicht mehr mit einem halbwegs sorgenfreien Leben rechnen. Bei der von Bundesrat Alain Berset aufgegleisten Altersreform vor vier Jahren waren im Parlament noch sozialpolitische Kompromisse zwischen der Linken, der Mitte und Teilen der SVP möglich. Inzwischen haben sich alle bürgerlichen Parteien sozialpolitisch radikalisiert. Sie haben ihre Reihen geschlossen und gehen beim Abbau von Rentenleistungen aufs Ganze. Zudem haben sie weitere Steuergeschenke für die Grossunternehmen in Milliardenhöhe beschlossen, wie etwa die Abschaffung der Stempelsteuer. Linke und Gewerkschaften sind im Parlament in diesen Fragen isoliert. Ihnen bleibt bloss noch das Referendum – wie im Fall der Stempelsteuer, über die im Februar abgestimmt wird.

Die Referenden haben gute Chancen. In den vergangenen zwanzig Jahren sind sämtliche Abstimmungen über die Altersvorsorge an der Urne gescheitert. Ob die Erhöhung des Frauenrentenalters reüssiert, über die voraussichtlich im nächsten September abgestimmt wird? Der Widerstand wird über das linke Lager hinaus heftig sein. Auch die bürgerliche Reform der Berufsvorsorge dürfte es in ihrer aktuellen Form an der Urne sehr schwer haben. Das Risiko, dass die bürgerliche Phalanx vor dem Wahljahr 2023 eingeht, ist beträchtlich. Denn der Rentenabbau trifft vor allem die Wählerschaft der SVP und der Mitte. Ob sie dafür den politischen Preis bezahlen? Ein Wunsch zu Weihnachten: Es wäre eine schöne Bescherung.