Von oben herab: Neujahrsduell

Nr. 1 –

Stefan Gärtner guckt Scholz und Cassis

Die Schweiz – stets im Schatten des grossen Kantons im Norden, des «grossen Bruders» (Orwell) und ewigen Konkurrenten. Aber mitunter kommt es auf die Grösse nicht an. Vergleichen wir die Neujahrsansprache des Schweizer Bundespräsidenten mit der des deutschen Bundeskanzlers. Ich kann Ihnen versichern, wir erleben eine Überraschung.

Länge: Ignazio Cassis spricht knapp vier Minuten, Olaf Scholz über neun. Das nimmt einen sofort für die Schweizer Version ein. In der Kürze liegt nämlich gerade dann die Würze, wenn die Würze erwartbar fehlt. Eine Neujahrsansprache besteht ja zuallererst aus dem Wasser, mit dem auch Staatsoberhäupter nur kochen. Darum: Schnell hinunter damit! So lauwarm, wie es ist, ist das auch kein Problem. Schweiz –Deutschland 1:0

Verständlichkeit: Die deutsche Rede ist auch deshalb so lang, weil Olaf Scholz so besonders bedächtig spricht. Er macht lange Pausen zwischen den Sätzen, auch zwischen den Wörtern, sogar zwischen den Buchstaben. Scholz sagt, dass alles sehr schwierig ist, wir aber zusammenstehen müssen. Er sagt, dass er daran glaubt, dass wir das hinkriegen. Komplizierter wird es auch bei Cassis nicht, und wenn sich Kulturkritik über einfache Sprache aufregt: Bei diesen Ansprachen waltet sie seit je. Schweiz –  Deutschland 2:1

Setting: Scholz steht vor einem grossen Fenster, im Dunkel dahinter der Reichstag samt Weihnachtsbaum; später zieht die Kamera auf, und wir sehen neben Scholz die deutsche samt der Europaflagge. Cassis dagegen steht in Mantel und Schal im Freien, aber Rasenfläche und kahle Platanen sind per Bluescreen hinzugefügt, und wir dürfen sagen: sehr schlecht hinzugefügt. Die Karikatur einer Bluescreenmontage, und vermutlich ist das wieder diese legendäre Schweizer Nüchternheit, die sich mit (teurem!) Firlefanz nicht abgibt. Der Gedanke, dass der Schweizer Bundespräsident in Schal und Mantel im Studio steht, um den Freiluftauftritt an einem sonnenklaren Neujahrstag zu simulieren, ist aber so lustig, wie es die Rede nie sein kann. Darum Schweiz –Deutschland 3:1.

Performance: Scholz versucht sichtlich, Weihnachtsbaum und Flaggen an Immobilität zu übertreffen. Die Hände vorm Bauch, bewegt er nur die Lippen und an wichtigen Stellen den Kopf; davon wird noch zu reden sein. Hier steht ein Kanzler bismarckgleich und kann nicht anders, als kühl, klar und souverän «Respekt, Anerkennung für alle und gute Lebenschancen» zu versprechen. Cassis dagegen wirft die Hände ins Bild und sagt: «Egal wo in unserem Land Sie leben und welche Sprache Sie sprechen, unabhängig ob Jung oder Alt, ob geimpft oder ungeimpft – der Bundesrat hört Ihnen zu.» Während die Ungeimpften dem Bundesrat natürlich kein bisschen zuhören, und vielleicht steht Cassis darum auch im «Freien»: aus Sicherheitsgründen. Jedenfalls unentschieden und also Schweiz – Deutschland 4:2.

Beste Sätze: «Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist ein hohes Gut und nicht verhandelbar.» Vermutlich sagt Scholz das zu Putin, vielleicht aber auch zu den grenzverletzenden Horden an den EU-Aussengrenzen – ein interessanter Move. Cassis dagegen liest vom Kalenderblatt: «Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein neues Jahr ist ein Geschenk. Heute, am 1. Januar, öffnen wir dieses Geschenk gemeinsam.» Ein Dorfpastor als Bundespräsident, aber das ist natürlich immer noch besser als ein Zyniker. Schweiz – Deutschland 5:2.

Tollster Moment: als Scholz sagt, es hätten sich bereits «60 Millionen Menschen in diesem Land impfen lassen. Es werden täglich mehr.» Und dann legt er den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, was von einem skeptischen Grindwackeln nicht zu unterscheiden ist. Super! Da kann Cassis froh sein, dass sein Vorsprung reicht, um selbst einen deutschen Bonuspunkt noch aufzufangen: – es guets nöis!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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