Olaf Scholz: Ein Joe Biden für Deutschland
Einen Monat vor den Wahlen befinden sich die SozialdemokratInnen im Umfragehoch. Kanzlerkandidat Olaf Scholz könnte eine eigentlich ruinierte SPD zur Regierungspartei machen – weil er zwar nicht Merkel, aber eben auch nicht Laschet ist. Eine Auslegeordnung unseres Kolumnisten.
Der Kollege klang nüchtern und war es wohl auch: Er tippe jetzt auf Scholz, «SPD 23 Prozent und dann die Ampel». Ich antwortete, ich würde eher mit einem knappen Sieg für Schwarz-Grün rechnen, was heute wie ein Rechenfehler klingt, wobei ich die jüngsten, für die CDU so desaströsen Umfragen noch nicht kennen konnte. Bekannt war allerdings die schrottige, wie sich selbst karikierende, ja von Selbstaufgabe kündende Unionskampagne («Deutschland gemeinsam machen»), gegen die auch die der Sozis so vorteilhaft absticht: «Scholz packt das an», und Scholz ist wirklich so packend ins Bild gesetzt, dass man ihm das glaubt.
Lange Geschichte des Klassenverrats
Scholz, das ist klar, profitiert vom CDU-Nullkandidaten Armin Laschet. Endlich nützt dem Sozialdemokraten das Image als nüchterner Praktiker, wo Laschet zum glücklosen Lachsack geworden ist und Annalena Baerbock, vor Wochen noch die strahlende Hoffnung schwarz-grüner oder sogar grün-schwarzer Zukunft, nach den Stolpereien um Lebensläufe und plagiierte Buchpassagen schlicht den Faden verloren hat. Überdies wählen Deutsche ungern Neues, und Scholz ist genau das, was sich viele der vielen Unentschlossenen gerade gut vorstellen können, eine Art deutscher Joe Biden nämlich, seit Jahrzehnten dabei, kein Visionär, aber einer, der morgens früh aufsteht und die Arbeit tut. Dass der Katholik Laschet, Ministerpräsident des grössten deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, zu Hause als Bruder Leichtfuss gilt, der lieber Schwätzchen hält, als den Terminkalender zu kennen, muss man gar nicht wissen, um den protestantischen Hanseaten Scholz, den sie früher wegen seiner farbarmen Vorträge «Scholzomat» nannten, der Zeit und ihren Herausforderungen angemessener zu finden als Laschets Mischung aus Karnevalsprinz und Autohaus.
Dazu muss man wissen, dass die SPD bis zu Scholzens Höhenflug eine völlig ruinierte Partei war, und das grösste Verdienst ihrer lachhaft uncharismatischen Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist, dass sie sich vom Wahlkampf nach Kräften fernhalten. Der Abstieg der SPD begann mit Gerhard Schröders triumphal gewonnener Wahl 1998, und ihre lange Geschichte des Klassenverrats erlebte mit der vom Medienkonzern Bertelsmann formulierten und vom «Genossen der Bosse» durchgesetzten Deregulierung des Arbeitsmarkts («Agenda 2010») einen neuen Tiefpunkt. Hartz IV, das schikanöse Verarmungs- und Enteignungsprogramm, das Scholz als «vernünftig, ausgewogen und deshalb auch zulässig» immer wieder verteidigt hat, will er jetzt, wo der exportierende Standort auf dem Rücken billiger Arbeit gesundet ist, durch ein besser klingendes, wenn auch wieder korrupt von «Chancen» faselndes «Bürgergeld» ersetzen, und weil eine SPD, die die kleinen Leute nicht wählen, zum Tode verurteilt ist, stehen im Wahlprogramm zwölf Euro Mindestlohn.
Sozialdemokrat alter Schule
Tatsächlich wäre ein «Bundeskanzler Scholz» viel weniger grotesk als ein «Bundeskanzler Laschet», denn während das wie der schiere Selbstwiderspruch klingt, hätte ein Regierungschef Scholz den frivolen Charme der Sensation, auch wenn der Wechsel bloss von jener Art wäre, die das Bewährte nicht verrät. Scholz ist ja amtierender Bundesfinanzminister, und sollte die internationale Transaktionssteuer doch nicht kommen, weil Big Money das letzte Wort hat, wird er derjenige bleiben, der sie wollte, auch weil sie so schön in die traditionelle deutsche Erzählung vom raffenden Kapital passt, das dem aufrecht schaffenden Deutschen, dem Schröder und Scholz die Löhne gedumpt haben, so wesensfremd ist. Das mag dem Publikum ähnlich einleuchten wie Scholzens Satz, den er 2017, als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, nach den Krawallen beim G20-Gipfel sprach: «Polizeigewalt hat es nicht gegeben.» Natürlich stimmte das Gegenteil. Hingegen stimmt, dass er 2001 als Hamburger Innensenator für die Zwangsgabe von Brechmitteln bei Verdacht auf Drogenhandel verantwortlich war, und gerade darin ist er ein Sozialdemokrat alter Schule, dass er die Stimmung am Stammtisch kennt, von der nicht zu sagen ist, ob sie einen «Bild»-Kommentar nun stimuliert oder sich ihm verdankt.
Sollte der nächste Bundeskanzler Scholz heissen, wird er freilich kein Volkskanzler sein, sondern einer, der einer Koalition mit Grünen und FDP vorsteht. Es wäre seine liebste und für die in Jahren der Grossen Koalition aufgeriebene SPD auch gesündeste Variante. Doch auch wenn das Wort «sozialliberal» einen guten, an Willy Brandt gemahnenden Klang bewahrt hat, ist die inhaltliche Basis für die «Ampel» schmal. Dass die SPD, wie von der Parteispitze bevorzugt, stattdessen mit Grünen und Linkspartei koaliert, wird rechnerisch knapp und ist auch darum nicht wahrscheinlich, weil die SPD sich ja neuerdings als Linkskraft profilieren will, was schwer wird, wenn man wiederum rechts steht, und zwar nicht von Kommunismus, sondern von Sozialdemokratie. Wer in Deutschland linker wählt als SPD, wählt also nicht das, was Laschet in bewährter Stupidität als Volksfront an die Wand malt, und dass, wer Scholz nicht wählt, für Laschet stimmt, liegt in der Natur der Sache.