Leser:innenbriefe
Schauspielhaus wird Forum
«Zürcher Stadtgespräch: ‹Sie müssten Bührle opfern. Und das wollen sie nicht›», WOZ Nr. 1/2022
Danke für das ausführliche Interview mit Richi Wolff zu Bührle und Zürich. Ich möchte dazu aufrufen, den Heimplatz zu einem Ort des Gedenkens und der Begegnung zum Thema «jüngere Schweizer Geschichte» umzugestalten. Das Kunsthaus, die Bührle-Bauten und das Schauspielhaus stehen als Zeitzeugen um den Platz herum, auf dem sich früher die zumeist bürgerlichen Schüler:innen von der Hohen Promenade und vom Rämibühl getroffen haben. Das Schauspielhaus möchte erneuert werden, man erwägt den Abbruch. Mein Vorschlag: Die Erneuerung findet im Schiffbau, im neuen Zürich statt, und aus dem Schauspielhaus wird eingedenk seiner Geschichte der Standort «Forum jüngere Schweizer Geschichte» für die Zeitspanne seit der bürgerlichen Revolution.
Christina Dolderer, Zürich
Irrlichternde Diskussion
«Leser:innenbrief: Tägliches Massaker», WOZ Nr. 1/2022, «Leser:innenbrief: Was, wenn der Mensch ein Nutztier wäre?», WOZ Nrn. 51 + 52/2021
Mir scheint, die Diskussion um die Nahrungsmittelproduktion gerate langsam aber sicher auf Abwege, welche die wesentlichen Fragen aussen vor lassen. Seit neustem wird offenbar gar die Nutztierhaltung an sich infrage gestellt. Hierzu fehlt mir jegliches Verständnis.
Wer die Nutztierhaltung per se abschaffen will, verkennt deren Bedeutung für die kleinbäuerliche Landwirtschaft, für die Ernährungssicherheit, für die Biodiversität, das Landschaftsbild und die kulinarische Vielfalt. Nutztiere beweiden Gebiete, die landwirtschaftlich gar nicht anders genutzt werden können (siehe WOZ Nr. 8/11: «Warum wir Rinder brauchen»). Nutztiere erzeugen hochwertigen hofeigenen Dünger, der auch für die Gemüseproduktion wichtig ist. Artenreiche Blumenwiesen sind entstanden, weil sie über Jahrhunderte hinweg zur Heuproduktion für die Nutztierhaltung jährlich gemäht wurden.
Und zu guter Letzt: Die Vielfalt an lokalen Käse- und Fleischprodukten, die wir zum Beispiel im Berggebiet kaufen können, ist ein über Jahrhunderte entstandener kulinarischer und kultureller Schatz, den wir weiter pflegen sollten.
Aus linker Sicht sollten wir aufhören, uns stundenlang über Veganismus, Speziesismus und Co. zu unterhalten. Damit retten wir weder das Klima, noch verbessern wir die Haltung von Rindern und Hühnern. Wichtig scheint mir vielmehr die Frage, wie der Einfluss der industriellen Nahrungsmittelproduktion mit ihrer massiven Ausbeutung von Natur, Mensch und Tier und die dafür verantwortlichen Grossfirmen (zum Beispiel Nestlé, Cargill, Syngenta) zurückgedrängt werden können und wie wir es schaffen, dass fair und bio produzierte Nahrungsmittel wirklich von der breiten Bevölkerung gekauft und geschätzt werden.
Pierre-Alain Niklaus, Basel
Die chinesische Richtung
«Chinas Weg zur Wirtschaftsmacht: ‹Evergrande ist nicht Chinas Lehman-Moment›», WOZ Nr. 50/2021
Das Interview mit der Chinaexpertin Isabella Weber über den schwierigen Weg, die schlimmsten Auswüchse von Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen zu korrigieren, ist sehr interessant und faktenreich. Es erscheint ganz klar, dass die entscheidenden wirtschaftlichen Beschlüsse sowie die wichtigsten Unternehmen fest unter staatlicher Kontrolle stehen.
Dabei wird aber die für mich entscheidende Frage, ob das Chinamodell schlussendlich doch noch zu einer sozialistischen Gesellschaft führen kann, nicht angesprochen. Die europäische Linke, die bereits die grösste Mühe hat, sich von dem stets zunehmenden Chinabashing der bürgerlichen Medien zu distanzieren, will sich diese grundsätzliche Frage aber auch nicht stellen. Im Gegensatz zu mehreren amerikanischen Marxisten, ich erinnere hier nur an das grundlegende Werk «Adam Smith in Peking» von Giovanni Arrighi. Er meinte, dass, solange der Boden Staatseigentum und die wirtschaftliche Entwicklung unter staatlicher Kontrolle bleibt, eine solche spätere Entwicklung zu einem richtigen sozialistischen Staat immer noch möglich sei.
Der chinesische Diskurs ist sehr ähnlich: Sie hätten unter und nach Mao gelernt, dass es unmöglich sei, eine sozialistische Gesellschaft in der Armut aufzubauen. Dies sollte aber dann möglich sein, nachdem sie dank Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen die Phase der Primärakkumulation abgeschlossen haben werden. Dies wurde mir bereits vor fünfzehn Jahren wortwörtlich von hohen chinesischen Politikern erklärt. Der Westen hat das aber nie wahrhaben wollen.
Was jetzt in China passiert, geht aber eindeutig in diese Richtung: Strukturen (zum Beispiel Spitäler), die früher privatisiert wurden, werden wieder verstaatlicht, das Welfare-System wird stark ausgebaut, der Mindestlohn wird stetig angehoben und so weiter.
Einige amerikanische Neomarxisten (zum Beispiel E. O. Wright) glauben, dass eine mögliche zukünftige sozialistische Gesellschaft so aussehen könnte: Das «Oben» (grundsätzliche, wirtschaftliche und politische Beschlüsse) und das «Unten» (Welfare, Schulen, Commons im Allgemeinen, wobei alles egalitär und gratis sein muss) gehören dem Staat beziehungsweise der Allgemeinheit. Im «dazwischenliegenden Raum» darf der Markt durchaus eine mehr oder weniger bedeutende Rolle spielen.
Die jetzigen Zukunftsvisionen Xi Jinpings scheinen ebenfalls in diese Richtung zu gehen.
Franco Cavalli, Ascona