Leser:innenbriefe

Nr. 1 –

Nichts mehr sicher

«Rentenreform: Lex UBS setzt sich durch», WOZ Nr. 50/2021

Bei den jetzigen Rentenreformen geht es darum, wie die kommende Rentnergeneration weniger erhalten soll, damit die übernächste nicht zu viel bezahlen muss. Niemals wird gefragt, ob die heutige Rentnergeneration etwas weniger erhalten sollte, damit die nächste und die übernächste Generation nicht zu wenig haben. Meistens wird bei der Besitzstandswahrung dann so argumentiert, dass die Rentnerinnen und Rentner Planungssicherheit haben sollten. Es ist allerdings ein grosser Widerspruch, dass die Planungssicherheit bei der heutigen Rentnergeneration so gross geschrieben wird und für die jüngeren Menschen durch den Klimawandel fast gar nichts mehr sicher sein wird!

Peter Spörri, Richterswil

Zeichen der Krise

«Essay: Die Logik lautet: Wenn wir globale Probleme in Geschäftsmodelle übersetzen, dann werden wir sie auch lösen können», WOZ Nr. 50/2021

Der Artikel von Johannes Truffer hat mir gut gefallen, insbesondere seine Deutung zum langsamen Zerfall der Leitidee (Shareholder-Value beziehungsweise alleinige Fokussierung auf die Steigerung des Unternehmenswertes), die im Gesellschaftsmodell der erweiterten Marktsphäre der Telematikära die Norm ist. Dass die Interessengruppen, die sich jeweils am Wef in Davos treffen, diesen Zerfall nicht einfach so hinnehmen werden, zeigt sich an deren Anmassung, globale soziale und ökologische Probleme in der Logik des alten Geschäftsmodells lösen zu wollen. Das Kritische Denken im Artikel von Johannes Truffer entlarvt diese Annäherung an Stakeholder-Values als Zeichen der Krise, in der das aktuelle Gesellschaftsmodell steckt.

Daniel Barth, Rapperswil-Jona

Allerhand Entlastung

«Bührle-Komplex: Wer ist hier bei wem eingezogen?», WOZ Nr. 51/2021

An der Pressekonferenz des Kunsthauses Zürich und der Stiftung E. G. Bührle hat der Präsident der Sammlung, Alexander Jolles, gesagt: «Aber Verfolgung, jüdische Verfolgung, staatlich orchestrierte Verfolgung gab es in der Schweiz nicht.» Das erinnert an den Historiker Joseph Jung, der 2017 in der Debatte über den Sklavereihintergrund von Alfred Escher geschrieben hat: «Dieser war aber nie in seinem Leben auf Kuba, noch hatte er je Sklaven gehalten.» Und dies wiederum hatte an den Kabarettisten Gerhard Polt erinnert, der in einem seiner Stücke in den 1980er Jahren einen dieser dumpfen Bayernschädel sagen liess: «Oiso, dieses Auschwitz, dös liagt jo goar net in Deutschland.» Ihnen allen ist gemeinsam: Sie argumentieren gegen etwas an, das gar nie jemand ernsthaft behauptet hat. Und: Sie versuchen, sich und andere zu entlasten, indem sie sagen: Das Grauen passierte ja gar nicht hier, sondern dort.

Hans Fässler, St. Gallen

Tägliches Massaker

«Leser:innenbrief: Was, wenn der Mensch ein Nutztier wäre?», WOZ Nr. 51/2021

Es ist erfreulich, dass im obgenannten Brief endlich das Problem des Speziesismus thematisiert wird. Es ist nämlich unerklärlich, warum wir Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen immer klarer erkennen und erfolgreich bekämpfen, andererseits aber ohne Skrupel speziesistisch andere Spezies töten, sie essen, zu Kleidern machen, an ihnen Experimente durchführen und sie zur Unterhaltung missbrauchen. Diese anderen Spezies leiden dadurch unendlich. Hoffen wir, dass bald jene Generation heranwächst, die ganz erstaunt fragt: Wie konntet ihr dieses tägliche Massaker einfach so zulassen …

Renato Werndli, Eichberg

Boric und Allende

«Linker Wahlsieg in Chile: Zeit für neue Experimente», WOZ Nr. 51/2021

Der Vergleich zwischen den Wahlresultaten von Boric und Allende ist etwas hinkend. Allende erhielt in der Tat im «ersten» Wahlgang 36 Prozent der Stimmen, Boric allerdings auch nur 26 Prozent. In der Tat gab es zur Zeit Allendes keinen zweiten «Volkswahlgang». Es oblag dem Kongress, den Präsidenten zu wählen, falls keiner der Kandidaten das absolute Mehr erreichen sollte. Es war Usanz, dass der Kongress den bestplatzierten Kandidaten wählte. Allende wurde dann tatsächlich vom Kongress zum Präsidenten gewählt, und dies mit Unterstützung der Christdemokraten, die allerdings vorgängig die sogenannten «garantías» abverlangt hatten. Es ist also unmöglich zu wissen, wie viele Stimmen Allende auf sich vereinigt hätte, wenn es einen zweiten «Volkswahlgang», eine «Volks»-Stichwahl zwischen den beiden erstplatzierten Kandidaten (Allende und Alessandri) gegeben hätte. Deshalb ist es etwas leichtfertig, zu schreiben, dass «das Mandat von Boric (…) sehr viel solider ist als das von Allende».

Ueli Tecklenburg, Crissier

Handlungsspielraum zeigen

WOZ allgemein

Ich lese seit langem die WOZ und bin immer wieder sehr froh um diese Zeitung. Trotzdem ist der Anlass dieses Briefs ein anderer: Wir brauchen mehr politische Zuversicht von der WOZ. Wir können nicht mehr. Mein Freundeskreis, meine Familie, die Menschen, mit denen ich arbeite – wir sind privilegierte Personen, hoffnungsvolle und freundliche Menschen. Politisch aktiv, nachdenklich, viele arbeiten in ihren Berufen mit dem Anliegen, die Gesellschaft mitzugestalten. Wir können uns schon immer eine andere Welt denken und wünschen sie uns oft auch. Doch der Vorstellungsraum wird zunehmend kleiner. Und wenn wir die Zeitung aufschlagen, finden wir hauptsächlich Bestätigung für einen pessimistischen und lähmenden Ausblick. Aber das muss so nicht sein, Zeitungen können auch etwas anderes. Sie bieten Platz für Ideen, Projekte, Entwicklungen, die Mut machen und aufzeigen, wie unsere Welt eben auch aussehen kann. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist das Interview der WOZ mit Cedric Büchling (siehe WOZ Nr. 50/2020 ), einem jungen Gewerkschafter und Klimaaktivisten, der bei VW arbeitet. Mehr politische Zuversicht bedeutet nicht unkritische Artikel oder Medienprodukte. Erst letztens habe ich jemand eine grosse Freude mit den Postkarten zum Rüstungsreport gemacht. Wenn dieses Thema etwas hervorbringt, das solche Freude bereitet, muss ja noch was drinliegen. Wir können nur begrenzt ändern, was es von der Welt zu berichten gibt. Wir können entscheiden, wie wir berichten und was unsere Aufmerksamkeit bekommt.

Ich möchte mir eine politische Zuversicht und damit Bereitschaft zu politischem Handeln erhalten. Wenn ich dafür aus der WOZ nicht nur Handlungsbedarf, sondern auch Handlungsspielraum herauslesen kann, freue ich mich.

Aber eben, besten Dank für diese tolle Zeitung.

Anne-Sophie Tramer, per E-Mail