Zürcher Stadtgespräch: «Sie müssten Bührle opfern. Und das wollen sie nicht»

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Er warnte früh, dass Zürich ein Monument für einen Kriegsgewinnler baue. Nun mischt sich AL-Stadtrat Richard Wolff in die Diskussion um den Bührle-Neubau ein. Er benennt den Antisemitismus, spricht über die Verantwortung des Stadtrats und fordert eine Vergesellschaftung der Sammlung Bührle.

«Wenn der Präsident der Bührle-Stiftung behauptet, es habe in der Schweiz keine Verfolgung gegeben, zeigt sich seine Geschichtsblindheit»: Richard Wolff.

WOZ: Herr Wolff, der Skandal um den Bührle-Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthauses nimmt kein Ende. Wie die «NZZ am Sonntag» berichtete, hat Kunsthausdirektor Christoph Becker an einer Medienkonferenz die Unwahrheit gesagt. Er behauptete, für die Darstellung von Bührles Geschichte den Präsidenten des jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, konsultiert zu haben. Doch Lauder bestreitet das. Ist Becker noch tragbar?
Richard Wolff: In der Bührle-Sammlung spiegelt sich die Geschichte der jüdischen Verfolgung im Zweiten Weltkrieg. Da ist es natürlich schon bemerkenswert, wenn sich der Kunsthausdirektor zur Verteidigung vor der Kritik auf den Präsidenten des jüdischen Weltkongresses beruft – und dieser von nichts gewusst haben will. Über die Zukunft von Christoph Becker muss der Vorstand der Kunsthaus-Gesellschaft entscheiden.

An der gleichen Veranstaltung sagte Alexander Jolles, Präsident der Bührle-Stiftung, in der Schweiz seien im Zweiten Weltkrieg Jüdinnen und Juden nicht verfolgt worden, man habe hier ungestört Handel treiben können, und überhaupt würden heute nur entfernte Verwandte und US-Trusts Forderungen nach Rückgabe von Bildern stellen. Die Künstlerin Miriam Cahn taxierte die Aussagen als antisemitisch. Teilen Sie ihre Einschätzung?
Ich habe meinen Ohren nicht getraut. So sind es eben häufig gerade keine entfernten Verwandten, die auf die Rückgabe von Bildern pochen, sondern, wie im bekannten Fall der Familie von Kaufhausbesitzer Max Emden, zum Beispiel die Enkel. Wer zudem von «US-Trusts» spricht, insinuiert fragwürdige Machenschaften von anonymen Gesellschaften, die darauf aus sind, Geld aus der Schweiz zu ziehen und den Ruf des Landes zu schädigen. Das ist in diesem Zusammenhang zumindest latent antisemitisch. Der Antisemitismus lebt heute von dieser Uneindeutigkeit: Ist eine Aussage so gemeint? Ist sie doch nicht so gemeint? Offenen Antisemitismus kann sich heute niemand mehr leisten. Selbst wenn Jolles seine Bemerkungen nur rausgerutscht sind: Darin manifestiert sich das Denken, dass die Juden schon wieder etwas von uns wollen.

Sie haben selbst einen jüdischen Hintergrund. Wie kommen solche Aussagen bei Ihnen an?
Mein Grossvater war Deutscher, meine Grossmutter Schweizerin, beide jüdisch. Durch die Heirat verlor meine Grossmutter das Schweizer Staatsbürgerrecht. Sie konnte sich nur aus Deutschland in die Schweiz retten, weil die jüdische Gemeinde dafür bürgte, für sie finanziell aufzukommen. Meinem Grossvater wurde hingegen die Einreise verweigert. Er wurde im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet. Meinen Vater konnten die Grosseltern schon vor Kriegsbeginn in der Schweiz in Sicherheit bringen. In meiner Familie gibt es also beides: Opfer und Gerettete. Was mich an Jolles’ Aussagen besonders stört, ist das mangelnde Verständnis für die Notsituation, in der sich Flüchtlinge auch in der Schweiz befanden. Warum sich nicht einmal in einen Flüchtling hineinversetzen, der knapp der NS-Verfolgung entkommen ist, noch ein Bild im Gepäck hat und es schnell loswerden muss, um sich die weitere Flucht zu finanzieren? Wenn Jolles behauptet, es habe in der Schweiz keine Verfolgung gegeben, zeigt sich exemplarisch seine Geschichtsblindheit: Die Schweiz war kein sicherer Hafen. Viele, denen die Flucht gelungen war, wurden zur Weiterreise gezwungen. Viele wurden interniert. Viele lebten in Armut, weil sie nicht arbeiten durften. Zehntausenden wurde die Einreise verweigert.

Wie erklären Sie es sich, dass es mehr als zwanzig Jahre nach der Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, insbesondere auch ihrer antisemitisch geprägten Flüchtlingspolitik, immer noch zu solchen Äusserungen kommt?
Es geht wie bei der Diskussion um die nachrichtenlosen Vermögen in den Neunzigern um das Ablehnen von Verantwortung und das Negieren jeglicher Beteiligung an systematischer unrechtmässiger Bereicherung. Zwanzig Jahre nach dem Bergier-Bericht wollen Becker, Jolles und die anderen Verantwortlichen immer noch dem Rest der Welt erklären, dass wir mit der Geschichte wirklich nichts zu tun hatten. Auch wenn das längst niemand mehr glaubt: die Amerikaner nicht, auch viele in der Schweiz nicht. Selbst die NZZ gehört in der Causa Bührle inzwischen zur Opposition und fordert Transparenz. Das Kunsthaus muss rigoros über die Bücher. Die jämmerlichen Versuche, sich der Verantwortung zu entziehen und den Kopf in den Sand zu stecken, müssen ein Ende haben. Aber das kriegen die heute Verantwortlichen im Kunsthaus einfach nicht hin. Und warum nicht? Sie müssten Bührle opfern.

Wie meinen Sie das: Bührle opfern?
Ich meine das im übertragenen Sinn. Man müsste die eigenen Verstrickungen zugeben. Es ist eine Tatsache, dass sich grosse Teile des in Wirtschaft und Politik tonangebenden Bürgertums mit den Nazis arrangiert hatten und teilweise sogar mit einem Anschluss liebäugelten – nicht nur in Zürich. Man muss das noch gar nicht Kollaborieren nennen, aber sie haben profitabel mit den Nazis zusammengearbeitet und gut gelebt davon, bis heute. Solche Zugeständnisse an die historische Realität sind nicht angenehm, weil offenbar wird, dass das Vermögen nicht nur auf der ureigenen Leistung beruht, sondern auch auf Gewinnen aus Krieg und Enteignung.

Auch das Kunsthaus hat stets von Bührle profitiert. Sieht es das Problem deshalb nicht?
Genau. Mit der Übernahme der Sammlung Bührle hätte das Kunsthaus die ganze Sache offensiv angehen und eine interessante, lehrreiche Geschichte daraus machen können. Das Kunsthaus hätte die Chance nutzen müssen, um Distanz zur Person Bührle zu gewinnen. Aber das will man nicht. Das Kunsthaus ist schliesslich immer noch eine Domäne des Bürgertums, des Zürichbergs.

Wobei in der Kunstgesellschaft, die das Kunsthaus betreibt, mittlerweile die Vertreter:innen von Stadt und Kanton die Mehrheit haben. Letztlich verantwortet das rot-grüne Zürich den Erweiterungsbau.
In dieser Frage sehe ich viel eher eine rot-blaue Mehrheit. Gerade bei wichtigen kulturellen Projekten kommt es immer wieder zum grossen Schulterschluss zwischen SP und FDP. Dabei geht es auch darum, die Stadt möglichst attraktiv auszugestalten und weltweit zu vermarkten: Wir sind doch alle stolz auf unser Zürich! Die Stadt hat mit die höchste Lebensqualität und jetzt nach Paris auch noch die grösste Sammlung impressionistischer Gemälde in Europa …

Der Historiker Erich Keller schreibt in seinem Buch «Das kontaminierte Museum», Zürich habe mit der Übernahme der Bührle-Sammlung das Geschichtsbewusstsein dem Standortmarketing geopfert. Sie haben früher als Stadtforscher gearbeitet. Teilen Sie die These?
Ich würde diese These ins Zentrum der ganzen Geschichte stellen. Das Sechseläuten kann man in New York nicht gut verkaufen – im Gegensatz zu den Impressionisten. Und schon bewegt sich Zürich auf Augenhöhe mit Paris, London oder New York. Wenn dann aber – wie es aktuell wegen der Bührle-Geschichte passiert – von aussen Kritik aufkommt, wittert man gleich ein Komplott. Genau wie es an der Medienkonferenz vorgeführt wurde.

Als Sie noch im Stadtparlament politisierten, warnten Sie als Einziger vor der Übernahme der Sammlung. Man baue, sagten Sie 2012, ein «Monument für einen Kriegsgewinnler». Wurden die Argumente überhaupt gehört?
Nein, die verhallten weitgehend ungehört. Auch die Presse nahm sie nicht auf. In der Abstimmung wurde der Erweiterungsbau dann in der ganzen Stadt angenommen, auch in den linken Wahlkreisen. Obwohl klar war, wenn wir ehrlich sind, dass er in erster Linie für die Bührle-Sammlung gebaut wurde. Sicher, ein paar historisch bewusste Linke waren schon damals dagegen. Aber es dauerte zehn Jahre, bis die Kritik Beachtung fand.

Der aktuelle Skandal begann mit Eingriffen in ein Forschungsprojekt durch einen Steuerungsausschuss, in dem der Stadtrat vertreten war. Tragen Sie eine Mitverantwortung, dass das Projekt falsch aufgegleist war?
Ich kann mich nicht aus der Verantwortung schleichen. Rückblickend muss man sagen, dass das anders hätte laufen müssen.

Waren die Eingriffe im Stadtrat ein Thema?
Die Diskussionen im Stadtrat finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weshalb ich mich zu dieser Frage nicht äussere.

Das Geschäft des Erweiterungsbaus und damit auch die Verantwortung liegt zur Hauptsache bei SP-Stadtpräsidentin Corine Mauch. Haben Sie sie für ihr Vorgehen kritisiert?
Was ich auf jeden Fall sagen kann: Meiner Meinung nach hätten Stadt und Kanton ihre Mehrheit im Vorstand der Kunstgesellschaft proaktiver einsetzen können.

Sie treten bei den Erneuerungswahlen am 13. Februar nicht mehr an. Was müssen Stadt und Kanton tun, um die Verantwortung nun wahrzunehmen?
Der Dokumentationsraum muss überarbeitet werden. Am besten fände ich, man würde – als Eyecatcher – eine Bührle-Kanone im Erweiterungsbau aufstellen. Dann würde die Finanzierung der Sammlung aus Kriegsgewinnen gleich sichtbar. Der Leihvertrag zwischen dem Kunsthaus und der Bührle-Stiftung gehört endlich veröffentlicht. Es braucht eine Provenienzforschung, die von den bisherigen Beteiligten wirklich unabhängig ist. Am besten mit internationalen Expert:innen. Die 500 000 Franken, die vom Stadtparlament auf Antrag des Grünen Markus Knauss bewilligt wurden, liefern die finanzielle Grundlage für diese und weitere Forschungen. Schon jetzt, sofort, sollte direkt neben jedem Bild der aktuelle Stand der Provenienz kurz und klar erläutert werden, so wie das bei der Gurlitt-Ausstellung in Bern gemacht wurde. Schliesslich muss man über eine Schenkung der Bilder durch die Stiftung Bührle an die Öffentlichkeit nachdenken.

Ist eine solche Schenkung realistisch – und was würde sie bringen?
Vielleicht müssen wir warten, bis die Frist für die jetzige Leihgabe ausläuft. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Diskussion in diese Richtung entwickelt: Entweder bezahlt die Stadt für den Unterhalt und die Sicherheit der Bilder und kann frei über sie verfügen und damit auch über die Darstellung der Geschichte und den Kontext, in dem die Bilder gezeigt werden. Oder die Bührle-Stiftung und die Familie Bührle bauen sich ihr eigenes «Kunsthaus» mit allen Konsequenzen.

In Ihrem Votum vor zehn Jahren zitierten Sie den Journalisten Hans Schwarz, der als Zeitgenosse schon 1945 schrieb, Bührle sei der skrupelloseste Kriegsgewinnler des Landes. Warum geht die Bührle-Kritik eigentlich immer wieder vergessen, sodass sie stets aufs Neue als Skandal erscheint?
Man verdrängt die Geschichte vermutlich immer wieder, weil sie so exemplarisch unschön ist. Gerade in diesem Sinn erfüllt mich die aktuelle Debatte aber mit einer gewissen Genugtuung: Die Verdrängung scheitert zurzeit am öffentlichen Druck. Dieser muss aufrechterhalten werden.

Richard Wolff (64) ist der «Bewegte» im Zürcher Stadtrat: Aktiv in der Jugendbewegung der Achtziger, gründete der Geograf später das internationale Stadtforschungsnetzwerk Inura mit. 2013 jagte er für die Alternative Liste der FDP einen Sitz im Stadtrat ab. Wolff war zuerst Polizeivorsteher und wurde gegen seinen Willen ins Tiefbaudepartement versetzt. Bei den Gesamterneuerungswahlen im Februar tritt er nicht mehr an.