Inge Ginsberg (1922–2021): «Ich will nichts haben, was mich zurückhält»

Nr. 4 –

Am 20. Juli 2021 ist Inge Ginsberg nach einem bewegten Leben in Zürich gestorben. Ein Nachruf zu ihrem 100. Geburtstag.

Inge Ginsberg

«Das Wichtigste im Leben ist Überleben», sagt Inge Ginsberg mir im September 2020 beim Interview. Und fügt hinzu: «Man muss schauen, wie man selbst die nächsten zehn Minuten überlebt. Nicht den Tag! Zehn Minuten! Das ist wichtig. Und das ist bis heut geblieben. Das sage ich immer Marion, meiner Tochter. Man kann immer die nächsten zehn Minuten überleben, auch wenn alles ganz schlecht wird. Überleb erst mal die nächsten zehn Minuten und dann wieder zehn Minuten. Das würde ich den Leuten sagen.»

Knapp aus Wien entkommen

Inge Ginsberg wurde am 27. Januar 1922 geboren und stammt aus einer jüdischen Wiener Familie. Ihr Vater Fritz Neufeld besass ein Speditionsunternehmen. 1938, nach dem sogenannten Anschluss Österreichs und dem Novemberpogrom, wird Fritz Neufeld verhaftet, ausgerechnet von einem seiner Chauffeure, der sich als links ausgibt, aber ein heimlicher Nazi ist. Er wird ins KZ Dachau gebracht. Inge versucht alles, um ihn freizubekommen. Einer verspricht, ihr im SS-Hauptquartier eine Hintertür offen zu lassen. So kann sie vorsprechen – und erhält als Sechzehnjährige für den Vater einen Entlassungsschein.

Er muss unverzüglich ausreisen, kommt nach England, kann aber die Familie nicht nachziehen. Inge muss das Gymnasium in Wien verlassen und beginnt eine musikalische Ausbildung. Leiter der Umschulung ist ihr späterer Mann Otto Kollmann, der Kindern das Akkordeonspielen beibringt, damit sie an der Strassenecke etwas Geld verdienen können. Doch mit Musik ist bald Schluss. Sie selbst leistet in der Wiener Mariahilfer Strasse in der kleinen, aber wehrwirtschaftlich wichtigen Nähfadenspinnerei Fischer Nachtdienst – und wohnt von da an bei ihrer Tante. Im Mai 1942 wird diese von der Gestapo abgeholt, zusammen mit dem Onkel Moritz Bock, einem unter Berufsverbot stehenden Anwalt.

Als auch die Grosseltern deportiert werden und im September 1942 der Befehl eintrifft, ihre Mutter Hilde, ihr Bruder Hans sowie sie und Otto hätten sich zum Transport nach Osten am Wiener Aspangbahnhof einzufinden, lassen sie nur ihr Gepäck hinbringen. Darauf sind sie sechs Wochen lang ständig auf der Flucht. Sie überleben nur dank Inges kommunistischen Freunden: «Weil ich komm aus einem sehr, sehr reichen Haus. Meine Grosseltern waren die reichsten Juden in der Tschechoslowakei, und was bin ich daher geworden? Eine Kommunistin.» Der Besitzer der Nähseidenfabrik verschafft ihr durch die Kirche ausgestellte falsche Geburtsurkunden. Dank dieser kann sie Wien hinter sich lassen. Ein ehemaliger Verehrer der Mutter, ein österreichischer Graf, lässt sie über die Grenze schmuggeln.

Sammellager in der Schweiz

Auf Schweizer Seite treffen sie auf einen rätselhaften Mann, der sie zum Prättigauer Dorf St. Antönien lotst. Wären sie beim Grenzübertritt aufgegriffen worden, hätte die Schweiz sie sofort zurückgeschickt; zwei Monate zuvor hatte das Land die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen. Vor den Toren Zürichs kommen sie ins Zivilinternierungslager Adliswil im Sihltal, eine ehemalige Seidenstoffweberei, seit 1942 das grösste Sammellager der Schweiz. Otto und sie, obwohl verlobt, werden nach dem Winter 1942/43 getrennt. Er muss ins Arbeitslager Mezzovico im Tessin. Dort wird er, weil er Akkordeon spielt, zu einem anderen Dienst eingeteilt: «Er war Nachtwächter, weil er nachts nicht schlafen konnte, und da hat er die Leute um 5 oder 6 Uhr früh mit seinem Akkordeon aufgeweckt.» Sie kommt nach Luzern und wäscht den ganzen Tag Wollsocken aus Männerlagern von überall her.

In seiner Freizeit spielt Otto auf den Plätzen Luganos selbstkomponierte Lieder, so wie er es einst seinen Schüler:innen in Wien beigebracht hat. Da wird er als Musiker entdeckt und erhält Engagements als Barpianist. Ein junger Holländer, der im Konsulat der niederländischen Exilregierung angestellt ist, wird ebenfalls auf ihn aufmerksam und rekrutiert ihn 1943 für den US-Geheimdienst.

Im Winter 1943/44 spielt Otto jeden Abend im Hotel Palace in Wengen. Da lernt er offenbar den Solothurner SP-Regierungsrat Jacques Schmid kennen, der dafür sorgt, dass Inge nach Lugano kommt: nicht irgendwohin, sondern zu Bill Nabarro, jenem jungen Holländer, der inzwischen für das amerikanische OSS – das Office of Strategic Services, einen Vorläufer der CIA – eine geheime Villa am Fusse des Monte Brè leitet. In dieser Geheimvilla betreut Inge Ginsberg italienische Partisanen, die im Schutz der Nacht über die Grenze kommen, wie sie in ihren 2008 erschienenen Erinnerungen «Die Partisanenvilla» schildert.

Das war die Villa Westphal, 1991 wurde sie abgerissen. Gelegentlich bringen Bill Nabarro und Inge Waffen und Medikamente direkt zur Grenze. Um die Grenzwächter abzulenken, spielen sie «die zerstrittenen Verliebten». Holen sie Partisanen nach Lugano, stopfen sie diese in den Fiat Topolino, und zwei Männer setzen sich aufs Dach.

Indirekt wird Inge Ginsberg auch Zeugin der Operation Sunrise, die zu einer Teilkapitulation der deutschen Truppen in Norditalien führt. Zweimal hat der SS-General Karl Wolff schon inkognito in der Schweiz mit dem OSS verhandelt. Dann wird er in seiner Befehlsstelle am Comer See von einer Gruppe italienischer Partisanen eingeschlossen. Angeführt von OSS-Agent Donald Jones holt ein Konvoi mit Inges Partisanen den SS-General dort heraus – eingerollt in einen Teppich im Kofferraum eines der drei Fahrzeuge – und bringt ihn in ein kleines Hotel in Lugano. Diese Aktion verschont das Leben vieler Menschen, rettet aber auch Wolff, der als «höchster SS- und Polizeiführer» in Italien für unsägliche Gräuel verantwortlich war.

Musik gegen die Albträume

Direkt nach dem Krieg beginnt Inge Ginsberg, mit ihrem ersten Gatten Otto Kollmann im Musikgeschäft zu arbeiten, auch in Hollywood. Er komponiert, sie verfasst die Texte dazu. Kollmann, der als Barpianist ein starker Raucher geworden ist, stirbt schon 1974 in Zürich, erst 58 Jahre alt. Inges Bruder Hans Neufeld wird, wie schon der Vater, Uhrensammler – und in Zürich Mitbegründer des Uhrenmuseums zum Rösli.

Inge Ginsberg dagegen erklärt: «Ich will nicht sammeln, ich will nichts haben, was mich zurückhält, ich will frei sein. Sammle nix.» Sie lacht auf. «Ich kann jetzt schon weggehen, ohne dass ich noch einmal zurückschau! Freiheit!» Mit ihrem dritten Ehemann, Kurt Ginsberg, lebt sie dann hauptsächlich in New York. Nach dessen Tod macht sie aus ihren eigenen Gedichten Musikvideos: «Wie ich neunzig war, hat meine Singkarriere begonnen. Ich kann ja nicht singen.» Einem breiteren Publikum wird sie so als «Heavy Metal Grandma» bekannt. Musik, sagte sie, sei immer noch «ein grosser Teil von meiner Freude. Ich schlaf mit einem Radio ein, und wenn ich nicht schlafen kann, höre ich Musik. […] Wenn ich träume, habe ich nur Albträume. Und ich bin immer bereit, mich draus aufzuwecken. Und meistens Albträume, wo ich davonlauf!»

Als ich sie zum Schluss unseres Gesprächs nach ihrem Lebensmotto fragte, antwortete sie: «Das schreibt, ich glaube der [Julio] Cortázar: ‹Wer weiss, von wem wir uns in diesem Haus heute verabschiedet haben, und wissen es nicht, wussten es nicht.› Sie fragen mich, was so meine Leitsätze sind. Das ist wohl der wichtigste: Du gehst weg und weisst nicht, ob du den anderen je wiedersiehst.»

Peter Kamber ist Autor und Historiker. Sein Filmporträt «Lehren eines Lebens. Inge Ginsberg, geboren 1922 in Wien» wurde in diesen Tagen fertig.