Joseph Spring: Ein Glück, trotz Schweiz zu leben

Ein Gespräch mit dem heute 71-jährigen Joseph Spring.

Herr Spring, als Hitler an die Macht kam, waren Sie sechs Jahre alt und lebten in Berlin. Wann sind Sie nach Frankreich geflüchtet?
Joseph Spring: 1939 hat mich eine Tante nach Belgien geholt, sie ist mit mir über die Grenze gefahren und hat mich als ihren Sohn ausgegeben. Mein Bruder war schon sechs Monate früher mit dem Mann dieser Tante über die Grenze gegangen, und ein bisschen später wurde auch meine Mutter nach Belgien geschmuggelt. Meine Mutter hatte in Berlin eine Eisdiele betrieben; mein Vater war 1932 gestorben, er hat das nicht mehr erlebt. – Wir wohnten dann in Antwerpen, bei einer zweiten Tante. Im Mai 1940 kam der deutsche Angriff, und wir sind nach Frankreich geflüchtet. Das heisst: Ich bin geflüchtet mit den Verwandten – mein Bruder war leider krank und lag im Krankenhaus in Antwerpen, die Mutter blieb bei ihm und konnte auch nicht mit – wir übrigen sind nach Frankreich geflüchtet. In Nordfrankreich, in der Stadt Arras, haben wir einen Zug geschnappt, meine Tante, ihr Mann, zwei Söhne und ich.

Die Söhne, das waren Sylver und Henri Henenberg?
Ja – die beiden, die ich später in die Schweiz bringen wollte; der dritte Sohn hiess Dolf, aber der war damals nicht dabei. Wir sind also von Arras ins Innere Frankreichs gereist, und am nächsten Tag ist unser Zug in einen anderen reingefahren. Und zwar so schlimm, dass unser Zug vollkommen zertrümmert wurde. Meine Tante hat beide Beine verloren – und hat gleich Wundbrand gekriegt. Drei Tage später ist sie im Krankenhaus gestorben.

Waren Sie auch verletzt?
Oh ja. Meine Beine waren gebrochen. Ich wurde dann in ein Kinderkrankenhaus nach Lorient gebracht, im Nordwesten Frankreichs, südlich von Brest. Dort hab ich gut Französisch gelernt.

Im Krankenhaus?
Im Krankenhaus. Ich sprach ja vorher kein Französisch, nur Flämisch und Deutsch. In Lorient habe ich ausserdem ein gutes französisches Kartenspiel gelernt, Belote – [lacht] – und ein paar Francs damit gewonnen! Nach sechs Monaten waren die Beine geheilt. Ich bin zurück nach Belgien und habe dort meine Mutter wieder gefunden. Ein Jahr später, 1941, mussten alle Juden in Belgien die Grossstädte verlassen. Wir lebten inzwischen in Brüssel und sind dann aufs Land geschickt worden, in ein kleines Dorf nicht weit von der holländischen Grenze. Dort haben alle Juden in einer Schule gewohnt, es waren vielleicht sechzig bis achtzig Leute, ganze Familien, und am Ende des Jahres 1941, nach ein paar Monaten, durften wir wieder zurück in die Grossstädte. Ich bin wieder zur Schule gegangen, bis im nächsten Jahr, im August 1942, diese Sache mit der Kommandantur war und mit den falschen Papieren. Wir haben inzwischen ja auch den gelben Stern getragen und so weiter …

Essen Sie doch von dem Kuchen – vor lauter Reden kommen Sie nicht zum Essen!
Ja, ich habe nämlich Angst, dass Ihr Band zu kurz sein wird.

Oh, ich habe mehrere Bänder dabei ...
Ja. Gut. Also, wenn Sie nichts dagegen haben… [isst] – Also 42, im August, mussten alle Juden auf die Kommandantur gehen und sich zur Arbeit melden, wie es hiess. Meine Mutter hatte aber mit belgischen Zwangsarbeitern gesprochen, und sie hatte gehört von Baracken, in die Juden reingingen, nachher wurde alles verklebt, und keiner kam mehr raus. Da hat sich meine Mutter gedacht: Da stimmt etwas nicht! Lieber gehe ich in den Untergrund. So sind wir nicht zur Kommandantur gegangen. Andere haben einfach das Gepäck genommen, sind hingegangen – und natürlich war es aus mit denen!

Was hiess das, in den Untergrund zu gehen?
Sie hat uns falsche Papiere beschafft. Meinen Bruder hat sie in einem Kloster untergebracht, und mich hat sie nach Frankreich geschickt. Ich hiess Joseph Dubois, und meine Mutter – das weiss ich gar nicht mehr, wie sie sich nannte. Ich weiss nur, dass sie im Untergrund war, und alle paar Tage gab es Razzien, bei denen die Papiere geprüft wurden. Wenn sie einmal geschnappt worden wäre, hätten ihr die Papiere allerdings nicht viel geholfen.

Warum?
Die Papiere waren nicht so wunderbar. – Aber, um jetzt weiterzuerzählen: Als wir nach Frankreich gingen 1942, mein Cousin Dolf und ich, haben wir uns in Montpellier festgesetzt, und dort bin ich wieder zur Schule gegangen, mit meinen falschen Papieren, ins Lycée. Auch ein paar schwarze Geschäfte habe ich gemacht, jeder musste Geschäfte machen, denn sonst gings ja nicht; als Jugendlicher konnte ich auch nicht einfach arbeiten, neben der Schule. Also, man hat sich so ein paar Franken verdient, und 1943, im Juli, kam ich einmal in mein Zimmer zurück. Da sagte meine Vermieterin: Die Polizei war da, vor fünf Minuten. – Ich bin gleich zu meinem Cousin und habe ihm gesagt: Die Polizei war da. Los! So sind wir nach Bordeaux weitergereist, dort haben wir uns wieder niedergelassen, und ich habe einen Job gefunden als Dolmetscher bei einer Schweizer Firma, die im Hafen von Bordeaux Bunker baute für Unterseeboote.

Eine Schweizer Firma? Wie hiess die?
Leider kann ich mich nicht mehr an den Namen erinnern. Es war eine Schweizer Firma, die im Auftrag der Organisation Todt arbeitete. Ich habe mich auch gewundert, was die Schweizer da machten. Aber für mich war es ja ganz egal, ob sie Schweizer waren oder Chinesen.

Welche Sprache haben die Schweizer gesprochen?
Deutsch und Französisch, beides. Ich habe mit denen Französisch gesprochen, doch der Schweizer Vorgesetzte konnte auch ein bisschen Deutsch. Ich selber durfte ja die deutsche Sprache kennen, weil ich laut meinen Papieren aus Metz kam. Und inzwischen hatte ich auch bessere Papiere: Wunderbare Papiere hatte ich! Ich hätte in Bordeaux bleiben sollen …

Wie sind Sie zu neuen Papieren gekommen?
Es gab ein französisches Gesetz, das besagte: Wenn man, beispielsweise durch Kriegsfall, nicht in der Lage ist, einen Geburtsschein zu kriegen, kann man zwei Leute, die bekannt sind in der Stadt, als Zeugen nehmen – und kriegt dann einen Geburtsschein. Das habe ich gemacht.

Zwei Leute haben für Sie gebürgt.
Das waren die Mutter und die Grossmutter eines Freundes in Montpellier, französische Protestantinnen. Sie versicherten, dass ich aus Metz stamme und dass sie mich seit meiner Geburt kannten. Da hatte ich wirklich Glück, aber ich hab's nicht ausgenutzt. Man hört zu viel auf Ältere … Nun, was vorbei ist, ist vorbei!

Sie sind von Bordeaux weg, weil Ihr älterer Cousin …
Mein Cousin Dolf Henenberg wollte, dass ich seine Brüder aus Belgien raushole. Ich habe also den einen Bruder, den Henri, aus dem Sanatorium geholt, er hatte Tuberkulose, und den Kleinen, Sylver, holte ich bei seinem Vater. Die Mutter war ja, wie gesagt, bei jenem Zugunglück 1940 gestorben, und der Vater hatte ein Bein verloren. Für ihn gab es keine Chance zu fliehen.

Mit den beiden Cousins wollten Sie im November 1943 in die Schweiz. Warum sind Sie ausgerechnet bei La Cure über die Grenze? Haben Sie die Landkarte studiert?
Ja, es hätte auch woanders sein können. Erstmal wollten wir nach Spanien. Wir fuhren in die Pyrenäen, aber wir konnten dort keinen Schmuggler finden, um uns über die Berge zu bringen, und da war alles voller Schnee, hoffnungslos. So sind wir an die Schweizer Grenze gefahren.

Können Sie von Ihren beiden Einreiseversuchen erzählen?
Der erste war an einem Freitag, und da haben sie uns geschnappt. Wir haben die Grenze überquert und sind einfach zu einem Bauern hingegangen und haben ihm gesagt, wir hätten einen Kontakt in Freiburg und möchten da hintelefonieren. Er sagte: «Ja, ich bringe euch zum Telefon», und statt dessen hat er uns zur Grenzpolizei gebracht.

Ein Schweizer Bauer?
Ein Schweizer, ja. Wir dachten schon, wir seien frei. Wir hatten ja keine Informationen. Hätten wir gewusst, was da passiert, wären wir nie rübergegangen. – Die Schweizer Grenzwächter haben zu uns gesagt: Jetzt geht über die Grenze zurück, und wenn ihr nochmals kommt, übergeben wir euch den Deutschen. Aber wir hatten ja keine Möglichkeit, wieder zurückzufahren. Erstens hatten wir kein Geld mehr, und zweitens wäre es sehr schwierig gewesen mit den zwei Jungs. Für mich wäre es noch in Ordnung gewesen, aber nicht mit den zwei! Die hatten ja keine richtigen Papiere.

Hatten die nicht auch gefälschte Papiere?
Doch, irgendwas, aber nichts Gutes. Nein, das war nichts. Die hätten nicht fünf Minuten …

Die wären erwischt worden?/strong>
In fünf Minuten. Aber ich nicht! Das ist, was mich so ärgert: Ich hatte wunderbare Papiere! Und bevor ich mit den Jungs Belgien verliess, hatte ich extra meine echten Papiere bei der Mutter geholt, damit ich den Schweizern beweisen konnte, dass ich in Gefahr war. Das ist die Sache! Es ist schon lange her, aber immerhin – ärgert mich heute noch!

Noch ein vierter Begleiter war bei Ihnen, der nichtjüdische Franzose Pierre Rollin. Wo haben Sie den eigentlich getroffen?
In La Cure. Der wollte mit uns mit. Wir haben dem gesagt, wir gehen rüber, und er wollte mitkommen. Er ist mit uns zurückgeschickt worden.

Was passierte beim zweiten Grenzübertritt?
Das zweite Mal sind wir zu keinem Bauern gegangen, da hatten wir schon was gelernt, sondern wir gingen so einer kleinen Bahnlinie entlang, nach Mitternacht sind wir da gegangen, und plötzlich hörten wir Stimmen. Wir waren schon kilometerweit in der Schweiz – oh ja! – und haben Stimmen gehört. Die Strasse war vielleicht zwanzig Meter tiefer als die Bahnlinie. Aber es lag überall Schnee um uns, wir waren schwarz, und man hat uns gesehen. Von der Strasse hat einer gerufen: «Hände hoch!» Wir sind runtergegangen, und dann haben die uns einfach den Deutschen gebracht. Die haben zuerst noch hintelefoniert, und die Deutschen haben uns dann erwartet, und wir sind übergeben worden.

Die haben hintelefoniert, sie bringen jetzt …
Ja, ja.

Sind Sie verhört worden?
Von den Deutschen? Oh ja! Oh ja!

Von den Schweizern?
Das erste Mal. Das zweite Mal haben sie uns nicht verhört.

Die Schweizer haben Sie ohne Verhör gleich den Deutschen übergeben?
Ja, ich habe dann probiert zu leugnen, dass wir jüdisch waren, aber die Deutschen haben mir einfach gesagt: Hier, du bist da und da geboren! Und so weiter, und so weiter! Die haben alles von den Schweizern gewusst. Da war nichts zu machen.

Sie hatten von den Schweizern Ihre richtigen Papiere gekriegt?
Ja, offensichtlich. Oh ja! Die haben mich einfach ausgelacht.

Und Ihr französischer Begleiter?
Wir wurden sofort getrennt. Es wäre interessant, zu wissen, was mit ihm damals passiert ist. Aber zweifelsohne ist er nicht ins KZ gekommen, das kann ich Ihnen sagen! Vergast wurde er auch nicht! Die Stadt Nancy hat mir jetzt mitgeteilt, er sei 1962 gestorben. Also dieser Franzose ist der Beweis: Wenn die Deutschen nicht gewusst hätten, dass wir jüdisch waren, dann wäre es uns besser gegangen. Da ist gar kein Zweifel. Und das ist nicht das Recht eines Landes, jemanden so auszuliefern! Wenn man die Leute nicht hereinlassen will – bitte! Aber bösartig zu sein und auch noch dafür zu sorgen, dass sie vergast werden, das ist nicht das Recht eines Landes!
Sie kamen dann nach Bourg-en-Bresse ins Gefängnis. Nach Bourg, ja. Zwei Wochen waren wir, glaube ich, in Bourg. Dann wurden wir von dort nach Drancy geschickt. Und ich hab einen Deutschen gefragt: «Wo gehen wir hin?» – «Nicht an die Riviera», sagt er. So sind wir nach Drancy gekommen, und da musstest du zuerst alle Wertgegenstände bei der SS abgeben, die haben die Namen aufgenommen, und wir sind dort ein paar Tage geblieben. Drancy war eine alte Schule, umgeben von einem hohen Drahtzaun. Man schlief auf dem Boden. – Ich fand, das fürchterlichste in Drancy war: Die Wände waren vollgeschmiert mit Namen. «Ich heisse so und so und war hier.» Da steht: «Vergiss mich nicht!» und solche Sachen, das war schrecklich für mich als Junger! Das erste Mal, dass ich sowas gesehen hab!
Ja. Und Jungs haben mit Mädels auf dem Boden einfach ganz offen geschlafen. Also … war fürchterlich …

Weil es das letzte Mal war …
Das letzte Mal, sozusagen, nicht. Und … ich war ja alleine. Also mit den zwei Cousins. Ich war zu jung für solche Sachen, keine siebzehn Jahre. Das schlimmste war, dass Leute nicht mehr als Menschen behandelt worden sind. – Verstehen Sie?
Ich weiss nicht, ob Sie verstehen können: Wenn man ein Mensch ist, möchte man die Sachen verstehen können! Ich konnte nix mehr verstehen, was da passiert ist. Alles Normalleben hat aufgehört. Und das ist das erste Mal, dass ich sowas gesehen habe. – Ich wusste, was ein Gefängnis ist, das verstehe ich, das versteht jeder. Aber ein Sammellager, wo ganze Familien einfach auf dem Boden schlafen, und die ganzen Wände vollgeschmiert mit Namen von Leuten, die hier waren … Vor Monaten! Denn das ging dort ja schon seit 1942 so – die ganzen Wände waren voll! Das war für mich sehr, sehr … wie man sagt … traumatisch.

Die Hölle.
Ja, genau das. Es war für mich genau wie die Hölle. Genau das! Weil man verzweifelt hatte, überhaupt jemals rauszukommen.

Dann wurden Sie von Drancy nach Auschwitz gebracht?
Ja. Die Fahrt dauerte anderthalb Tage oder zwei Tage. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Ich weiss nur: Man konnte nirgends pinkeln oder was anderes. Es war schlimm! Es war nicht angenehm, auf alle Fälle. Doch ich hab's überlebt, ohne Schwierigkeiten – wenn man jung ist, überlebt man ja alles. Aber für die älteren Herren und Damen war's nicht gut. Dann sind wir angekommen. Es war so ein grauer Dezembertag. Ungefähr der 19. Dezember 1943.

Hatten Sie eine Ahnung, wo es hinging?
Keine Idee! – Als wir rauskamen aus dem Zug, da waren SS-Leute mit den Hunden, und dann kamen so ein paar Gefangene, Leute mit diesen gestreiften Pyjamas, die sind rumgelaufen, und die Leute aus dem Zug haben sich beklagt, weil sie die Bagage liegenlassen mussten. Manche wollten nicht, aber die bekamen gleich mit dem Knüppel auf den Kopf! Und die Gefangenen sind da rumgegangen und haben denen gesagt: «Weisst du nicht, wo du bist!» – Wir wussten es natürlich nicht. Dann gab es so eine Mitteilung, es hiess: Alle Leute, die müde sind oder sich krank fühlen, kriegen einen Transport mit dem Lastwagen ins Lager; die andern müssen laufen. Da hab ich gesagt: «Ich laufe!» Denn, wenn jemand mich aus Frankreich holt und alles mir abklaut, der ist nicht plötzlich nett zu mir. – Der Cousin, der Henri, sagte, er sei krank, er wolle auf den Lastwagen. Und sein kleiner Bruder, der Sylver, wollte bei ihm bleiben. Ich habe noch probiert, ihn davon abzuhalten, aber da war nichts mehr zu machen. Das letzte, was ich von denen sah: Sylver trug unser Brot mit sich, und er hat mir noch ein Stück zugeworfen, dieses Stück ist da auf dem Glatteis – es war alles Glatteis auf der Rampe – geschlittert … Das war das letzte, was ich von ihnen sah. Sie wurden gleich vergast, am selben Tag noch. – Und ich bin ins KZ und hatte Glück.

Wie?
Am nächsten Tag, bei der Aufnahme von Neuankömmlingen hab ich einen Schreiber kennengelernt, Walter Peiser. Er war Schreiber bei der politischen Abteilung; das ist die Gestapo. Er war seit 1938 eingesperrt wegen Rassenschande. Er war Jude und hatte eine Freundin, die nicht Jüdin war. Von Beruf war er Commercial Artist– wie heisst das auf Deutsch

Werbegrafiker?
Werbegrafiker, genau das war er. Das hat ihn gerettet. Er kam zuerst ins Zuchthaus, dann ins KZ Sachsenhausen, 1941 nach Gross-Rosen. Dort kam einmal ein SS-Mann und fragte: «Wer kann zeichnen?» Da sagte er: «Ich kann zeichnen.» Der SS-Mann hat ihm ein Foto gegeben von seinem Vater, hat ihm etwas zu essen gegeben und Zeichenmaterial – und er musste dann das Bild dieses Vaters des SS-Mannes zeichnen. Später ist der SS-Mann gekommen und hat gesagt: Seine Mutter habe geheult, so ähnlich sei das Bild dem Vater. Und von diesem Moment an wollten alle SS-Leute, dass er für sie zeichnete. Das hat ihn gerettet. 1942 ist er aus Gross-Rosen nach Auschwitz gekommen, im Oktober. Und als ich kam, hat er dort schon eine bessere Position gehabt, er bekam mehr zu essen als politischer Schreiber und so weiter. – Peiser hatte vorher in Berlin gelebt, ich war der einzige Berliner auf diesem französischen Transport aus Drancy, und da sagte er: «Wenn dir was passiert, komm zu mir!» Und schon am ersten Tag wurde mir natürlich alles geklaut, die Lederschuhe, alles mögliche, und … der Blockälteste war homosexuell, ein deutscher Krimineller … mit dem habe ich Schwierigkeiten bekommen und bin also gleich zum Peiser. Der hat mich rausgenommen und einem anderen Block zugeteilt, in dem er den Blockältesten kannte. So hat er mich gerettet, nachher habe ich dann ja alles mögliche überlebt; ich wurde Arbeiter in Buna.

Zwangsarbeiter?
In Buna, für die IGFarben, ja. Dort habe ich als Schweisser gearbeitet.

Wieso konnten Sie schweissen?
Ich habe das Schweissen gelernt. Das hat auch der Peiser veranlasst, er sagte: «Wenn du hier überleben willst, musst du etwas können. Als Schüler kannst du dich hier nicht durchbringen, du musst irgendwas lernen.» So habe ich Schweissen gelernt. Ich habe in der Fabrik dann Rohre geschweisst – die wollten dort Methanol produzieren. Und mein Freund Peiser hat immer gesagt: «Im KZ darfst du nie müde werden, sonst überlebst du's nicht! Aber die Augen sollen müde wirken!» Das heisst, du musst aufpassen, dass man dich nicht schnappt – weil du zuwenig gearbeitet hast. Immer vorsichtig sein! Und so wenig tun wie möglich, denn wir haben ja nichts zu fressen gehabt. Mit dem Essen, das wir da einmal pro Tag bekamen, konnte niemand überleben; drei Monate höchstens. Doch der Peiser hat mir immer noch irgend etwas extra gegeben, er hatte gute Beziehungen zur SS-Küche; die meisten sind nämlich umgekommen, wenn sie nichts extra bekommen haben. – Und nachts musste man möglichst viel schlafen. Ich bin immer gleich ins Bett, das Licht war noch an, und hab gleich geschlafen.

Wieviel Platz gab es zum Schlafen?
Es waren ungefähr zweihundert Mann, die in so 'nem Block gelegen sind, da standen dreistöckige Holzbetten, und je nachdem konnte man schlafen. Das beste war unten, aber oben war auch in Ordnung. Du musstest schlafen, um Kraft zu sparen. Das haben manche Idioten nicht gemerkt! Und dann nachts … zwischen den Brettern gab es so Fugen … da konntest du abends sehen, wie die Wanzen eine hinter der andern … die haben einander beinahe in den Hintern gebissen … Tausende von Wanzen sind da rummarschiert! Die sind dir nachts übers Gesicht marschiert! Und alle paar Monate haben sie die Wanzen getötet, dann war die Matratze voll mit Wanzen. Dazu haben die dasselbe Gas benutzt, wie um die Leute zu töten, also das Zyklon B.

Für die Wanzen?
Für die Wanzen, ja. – Und unsere Wäsche haben sie dann auch entlaust. Das hat immer ein paar Stunden gedauert, dann kriegtest du die nasse Wäsche wieder zurück, dann gingst du wieder in die Baracke rein und musstest dann die toten Wanzen loswerden von der Matratze. – Aber … Ah ja, noch was anderes: Alle zwei Monate ungefähr gab's Kontrolle. Dann musstest du in der Baracke zur einen Tür raus und zur andern wieder rein und vorbei bei einer Bank, da hat ein SS-Mann gesessen. Vollkommen nackt musstest du das machen, und der SS-Mann hat sich deinen Arsch angeguckt, und wenn noch … wie man sagt … Fleisch dran war, dann war's in Ordnung, sonst haben sie deine Nummer genommen. Zum Vergasen. – Und … aber trinken Sie doch Ihren Kaffee!

Ja. Danke. – Die haben geschaut, ob man noch stark genug war?
Ja, genau das. Aber der Peiser sagt mir: «Wenn sie deine Nummer nehmen, komm zu mir!» Das hat der Peiser gesagt. Und … sie haben nie meine Nummer genommen, weil ich noch 'nen Arsch hatte. [lacht]

Bis wann waren Sie in Auschwitz?
Bis zum 18. Januar 1945. Das war mein 18. Geburtstag. – Am Nachmittag, ungefähr so um halb vier Uhr, es war schon Dämmerung, sagte der Peiser zu mir: «Wir müssen alle raus, die Russen kommen!» Und er sagt zu mir: «Jetzt wird's noch schlimmer!» Und da hat er recht gehabt. – Ja, dann sind wir marschiert durch den Schnee, die ganze Nacht durch, und während wir marschierten, gab's dieses Aufleuchten am Himmel, jedesmal wenn die Artillerie geschossen hat, leuchtete es auf, das haben wir gesehen und natürlich auch gehört. Wir sind also die ganze Nacht durchmarschiert, und das war so schlimm, das Marschieren, dass den SS-Leuten ihre leichten Maschinengewehre und die Munition zu schwer wurden und sie uns befahlen, das zu tragen. So haben wir ab und zu Munition getragen und ab und zu sogar die Maschinengewehre. Ab und zu sind die SS-Leute auch hingefallen. Dann ist eine Ambulanz gekommen – rein und weg! Die Gefangenen, die nicht marschieren konnten, wurden natürlich abgeknallt.

An der Strasse direkt?
Oh ja. Einfach abgeknallt, und … wir sind bis nach Gleiwitz marschiert. Als wir in Gleiwitz angekommen sind, da waren schon andere von anderen Lagern da. Denn Auschwitz bestand ja nicht nur aus Auschwitz allein: Auschwitz, Birkenau und Buna waren die Hauptlager … heisst es Läger oder Lager?

Lager.
Lager. Es gab 27 Lager in der ganzen Gegend. Alle gingen jetzt nach Gleiwitz. Als wir dort angekommen sind, lag schon ein ganzer Haufen von Toten da, wir wussten nicht, warum. Wir haben erst später erfahren: Die SS-Leute waren verrückt geworden, weil die Russen kamen, und haben einfach angefangen reinzuhauen. Wo sie konnten, ja, einfach gehauen. In Gleiwitz waren wir drei Tage, bis ein Zug fertig war, um uns mitzunehmen. Dann sind wir knapp zwei Wochen auf diesem Zug gewesen, ohne Wasser, bis nach Dora.

Zwei Wochen ohne Wasser?
Dreizehn Tage, ja. Kein Wasser. Es waren offene Wagen, ohne Dach. Einmal ist die Lokomotive stehengeblieben, wir haben nach Wasser geschrien, und jemand hat von der Lokomotive Wasser genommen, wollte es uns bringen, einen Eimer voll, und musste es ausgiessen. Die SS hat das befohlen. Das einzige Wasser, das wir gekriegt haben, war ein bisschen Schnee. Wir hatten so eine Büchse mit einer Schnur dran, die haben wir aus dem Wagen geworfen, damit Schnee reinkam, und wieder reingezogen und zwischen den Beinen gewärmt. – Und scheissen mussten wir zwischen den Wagen, auf den Puffern. Erstmal musste man rufen, zum SS-Mann: «Jemand will scheissen!» Und entweder war er einverstanden oder nicht. Als wir ankamen, da in – wie hiess das – Dora! Buchenwald Nr. 2, Dora hiess das, ja! – , da hat der Peiser gesagt: «Wir bleiben nicht hier. Das ist zu gross, das Lager, und zu gefährlich.» Er kannte einen von den SS-Leuten, der hat Leute gesucht, um noch ein Lager aufzubauen im Gebirge, und wir haben uns gemeldet und sind gleich mit. Wir waren 300 Mann und haben dann bis 5. April dort gearbeitet, Stollen gebaut für eine unterirdische Fabrik, die man nicht bombardieren konnte. Das haben wir getan. Ab und zu wurden wir verhauen, natürlich, und so weiter …

Sie wurden auch verhauen?
Oh ja. Und wenn du eins in die Fresse bekamst, musstest du liegenbleiben. Nicht aufstehen, um Gottes willen! Weil, wenn du aufstehst, kriegst du noch eine! Das waren solche Tricks, die du gelernt hast. – Und am 5. April 1945 war wieder eine Evakuation.

Wie hiess dieses Lager?
Turmalien. Es war im Harzgebirge. Und Turmalien wurde evakuiert. Damals hab ich, leider Gottes, eine Infektion gehabt, und zwar am linken Fuss, der war infiziert. Und in meinen Leisten waren die Lymphdrüsen ganz gross, die wurden immer grösser.

Entzündet.
Entzündet, und wir hatten so 'nen Kerl, der war Doktor oder so was ähnliches. Und ich frage: «Soll ich marschieren?» – Sagt er: «Ich würde nicht. Sieht schlimm aus.» –Also hab ich auf Wiedersehen gesagt zum Peiser, der musste marschieren, bin auf den Lastwagen rauf, sie haben mich in ein Lager gebracht, wo alle Kranken waren. Aber dann sagte mir dort einer: «Wenn ich du wäre, ich würde marschieren. Trau den Hunden nicht einen Meter! Lauf, solange du kannst!» – Und ich bin in diesem Lager, wo alle krank waren und nicht mehr laufen konnten, in den Tagesraum gegangen, da war ein Schrank voll mit Brot. Ich habe Brot genommen, drei, vier Brote, bin zu einer Gruppe Franzosen gegangen, die durchmarschierten, gab ihnen das Brot, und sie nahmen mich mit. So bin ich als Franzose marschiert. Eine ganze Woche lang, Richtung Magdeburg.

Auf diesem Marsch, haben Sie einmal erzählt, seien deutsche Zivilisten am Strassenrand gestanden und hätten …
Oh ja, junge Kerle! Die haben der SS zugerufen: «Gebt die Kerle uns doch!» Das sagten diese sechzehnjährigen Jungs, Hitler-Jugend, ja. Die SS hat's nicht getan. Die hätten uns fertiggemacht, zweifelsohne!

1945 noch!
1945! Ende des Krieges! – Und der SS-Mann, der hat … Ich war ja ganz zuhinterst in der Kolonne. Der SS-Mann, der das Schiessen gemacht hat, also der hatte sein Gewehr und ein Fahrrad. Ich hab mich mit ihm unterhalten ab und zu. Und immer, wenn jemand gefallen ist, ist er zurückgeblieben, dann hast du einen Schuss gehört, und er hat uns mit dem Fahrrad wieder eingeholt. – Am letzten Tag hab ich zu ihm gesagt: «Ich glaub, ich kann nicht mehr weiter.» Da sagt er zu mir: «Ach», sagt er, «mach ruhig weiter, Berliner. Du wirst es schon schaffen!» Der … der wollte mich nicht erschiessen … Aber er hätt's trotzdem getan.

Er hätt's trotzdem getan?
Zweifelsohne! Nur, es war ihm unangenehm. [lacht] – Und meine Drüsen sind natürlich immer schlimmer geworden, und am selben Abend hab ich mich in so'nen Berg von Kartoffeln eingebuddelt. Weil es hiess, dass die Amerikaner kommen.

Wo gab es denn Kartoffeln?
Das war eine Scheune irgendwo unterwegs. Beim Abmarschieren hat ein SS-Mann mit dem Bajonett in dem Haufen rumgestochert – aber dem war es inzwischen wohl auch scheissegal, ob da noch jemand drin ist oder nicht. Mich hat er jedenfalls nicht geschnappt. Während der Nacht hörte ich plötzlich Stimmen – und am nächsten Morgen waren wir da vielleicht acht oder zehn Mann in der Scheune. Ich hab eine Zwiebel genommen und Kartoffeln, ein bisschen Stroh genommen, bin rausgegangen, hab das angezündet – und hab mir zuerst eine Suppe gemacht. Das war das erste. Eine schöne Suppe. Nirgends war ein Deutscher zu sehen! Aber dann rannte plötzlich ein Junge von der Landstrasse rein in diesen Bauernhof und sagte: «Die Amis kommen!» Ich wusste ja nicht, was die «Amis» sind, aber ich hab mir gedacht: Vielleicht sind das die Amerikaner, nicht
Ein paar Minuten später kamen schon die ersten Tanks durchgesaust. Das dauerte vielleicht so eine halbe Stunde: nur Tanks, die vorbeifuhren. Dann kam ein Jeep zu uns, da sassen zwei Leute vorne, und einer stand hinten mit so 'nem grossen langen Maschinengewehr. Und einer von denen fragte: «Gibt es hier deutsche Soldaten?» – Sag ich: «Nee!» Wir standen in der KZ-Kleidung da. – Sagt der: «Will jemand Cognac oder Zigaretten?» [lacht] – So war das. Ich hab ja nicht geraucht, und Cognac konnte ich auch nicht vertragen. Aber ich bin raus aus dem Bauernhof und wusste, dass wir frei waren. Und hab gleich probiert, erstmal einen Doktor zu finden.

Jetzt sitzen wir hier in der Schweiz, bei Kaffee und Kuchen. Die Schweizer haben Sie 1943, als sie bereits von den Vernichtungslagern wussten, dem Tod ausgeliefert.
Ja, zweifelsohne! Nicht nur, dass sie uns bewusst in den Tod geschickt haben, aber sie haben den Leuten auch noch gesagt, dass wir Juden waren. Also wenn auch nur eine Chance bestanden hat, damals, dann haben die Schweizer dafür gesorgt, dass die nicht mehr bestand. Und das wäre ja nicht notwendig gewesen. Die Schweiz hat gar keinen Grund gehabt, das zu tun. Nur aus Bösartigkeit. Für meine Begriffe war das ein Kriegsverbrechen. Für meine Begriffe, vielleicht nicht für die Schweiz. Aber wenn es eine Gerechtigkeit geben würde, die überall dieselbe wäre, dann würde das eine sehr grosse Ungerechtigkeit sein. Finden Sie nicht?


Zurück in Belgien fand Joseph Spring seine Mutter und seinen Bruder am Leben. Auch Walter Peiser überlebte. Spring wanderte 1946 nach Australien aus.