Bühne: Alles Nina

Nr. 8 –

Die Performancekünstlerin Nina Langensand treibt in ihren Theaterprojekten den autobiografischen Zugang auf die Spitze.

Portraitfoto von Nina Langensand
Das einst Unteilbare heute mit dem Publikum zu teilen, ist ein Befreiungsschlag: Nina Langensand. 

«I beg your pardon, I never promised you a rose garden»: Ein Countryhit aus den Siebzigern erklingt in Endlosschleife. Mitten auf der Bühne, nebeneinander aufgereiht, tanzen vier Darsteller:innen; eine ist Nina Langensand, eine weitere ihre Mutter – vielleicht, so ganz klar zu erkennen geben sie das bis am Schluss nicht.

Jedes Mal, wenn das Lied endet, die Hoffnung, das Stück möge endlich so richtig losgehen. Nach fünfzehn Minuten geht Langensand ans Mikrofon, beginnt, von den schwierigsten Momenten ihrer Kindheit zu erzählen, wenn der Alkoholismus ihrer Mutter alles überschattete. Im Hintergrund macht die Mutter Pilatesübungen, ohne auf das Gesagte zu reagieren, dann liest sie aus Sachbüchern über (Ko-)Abhängigkeit vor.

«Alkohol», eine Eigenproduktion von Nina Langensand, berührt und langweilt zugleich. Ein roter Faden, der etwas Halt geben könnte, fehlt. Und: Warum eigentlich dieses Exponieren der eigenen Biografie auf der Theaterbühne?

Ein halbes Jahr später, im Zug von Luzern nach Solothurn: vom Veranstaltungslokal Südpol, wo derzeit für das Stück «Kassandra und keine mehr» geprobt wird, an die Filmtage. Langensand erzählt von ihrer Arbeit. Sie springt von einem Gedanken zum nächsten, ein Gespräch wie ein Parcours: Einige Anekdoten bleiben auf halbem Weg liegen, andere nehmen unerwartete Wendungen. Das Velo mit zwei Kindersitzen, einer vorne, einer hinten, muss auch mit, von Genf, wo die Kinder meistens wohnen, über den Hauptarbeitsort Luzern nach Solothurn und wieder zurück.

Alltagsmensch auf der Bühne

Definitionen ihrer Arbeit verweigert sie sich: Sie hat die Schauspielschule absolviert, ohne sich als Schauspielerin bezeichnen zu wollen, war an der Kunsthochschule und nennt sich ebenso nicht Künstlerin. Bei ihren Eigenproduktionen entsteht der Eindruck, sie stehe weniger als Schauspielerin denn als Alltagsmensch auf der Bühne. Gerne auch mit Freund:innen, weil sie das Zusammensein schätzt. «Vielleicht ist das, was ich mache, einfach leben, mit aller Unsicherheit, Verwundbarkeit, Verbundenheit», sagt sie.

Ihr erstes Projekt, in dem sie ein Familienmitglied mit sich auf die Bühne brachte, entstand 2013. Damals war ihr Bruder, Jurist und Fan des Eishockeyklubs Ambri-Piotta, unversehens wie viele andere Personen aus absurden Gründen auf die nationale Hooliganliste geraten. Diese Willkür müsse bekannt werden, sagte er zur Schwester. Das daraufhin entwickelte Stück hiess «Ultra», das dabei entstandene Theaterkollektiv hat den Namen bis heute behalten.

Diesen Ansatz deklinierte Langensand in den vergangenen Jahren mit weiteren Verwandten durch: zuerst mit der demenzkranken Grossmutter, die in «Panik» «Eile mit Weile» spielt und Walzer tanzt; in «Chi» dann mit ihren Kindern, damals im Baby- und Kleinkindalter. Sie spielen auf der Bühne, schlafen, schreien ins Mikrofon, während die Performerin einen Text an sie richtet. 2021 dann «Alkohol», das Langensand mit ihrer Mutter entwickelte und in dem sie zusammen auf der Bühne deren Alkoholkrankheit und den gesellschaftlichen Umgang damit thematisieren.

Aufgewachsen ist Langensand in Luzern. Der Vater arbeitete sein Leben lang bei einem Hilfswerk, die Mutter schaute zu Hause zu den Kindern: eine vermeintliche Vorzeigefamilie. Aus Angst vor Verurteilung musste diese perfekte Fassade aufrechterhalten werden. Langensand schrieb gute Noten in der Schule, kümmerte sich um ihren Bruder, pflegte die Mutter in der Nacht. Wenn sie die Ambulanz rief, verwies diese sie an die Polizei, die keine Hilfe war, ihr eher auf die Füsse trat. Langensand wünschte sich, mit der Situation weniger allein zu sein. Das einst Unteilbare heute mit dem Publikum zu teilen, allen anzuvertrauen, ist ein Befreiungsschlag.

Raum der Solidarität

Man kann Langensands Produktionen als zu therapeutisch, zu aktivistisch oder als dramaturgisch zu wenig ausgeklügelt kritisieren. Trotzdem erschafft sie, indem sie so viel von sich preisgibt, einen Raum der Solidarität aufgrund geteilter Erfahrungen: Die gesellschaftlich geforderte Symbiose mit den Kindern, die Angst vor dem Kontrollverlust bei Krankheit, die Scham wegen Sucht betreffen sie persönlich, aber auch viele, die im Publikum sitzen. «Ich habe auch Angst, ich bin auch unsicher, ich habe auch nicht die Lösung»: Lauren Bastides Definition von «Care», die Langensand am triftigsten erscheint, wirkt auch wie der Leitfaden ihrer Stücke. Sie selbst findet: «Ich möchte lieber Anfängerin sein statt grossartig.»

Langensand weiss um die gemischten Gefühle, die ihre Projekte auslösen, auch um die ethischen Fragen. Am Tag der Premiere von «Panik» etwa rief ein Journalist an und sagte, sie könne unmöglich ihre demenzkranke Grossmutter auf der Bühne exponieren. Doch abends nach der Aufführung lagen Grossmutter und Enkelin zusammen im Hotelzimmer, die Grossmutter strahlte.

Langensand arbeitet in ihren Produktionen mit Collage. Sie probt ohne vorgegebenes Skript, bei Ultra werden auch dramaturgische Fragen im Kollektiv entschieden. Sollen ihre Stücke überhaupt eine Geschichte erzählen? Die Frage kann Langensand nicht direkt beantworten. Erst am Tag darauf sagt sie via Sprachnachricht, sie wolle auf jeden Fall Geschichten erzählen, aber eben anders, ohne Spannungsbogen und vorgegebenen Handlungsablauf, sondern als Neuschreibung der gängigen Narrative.

«Kassandra», für das Langensand mit der Gruppe Grenzgänge gerade in Luzern probt, wurde zwar von Anaïs Clerc geschrieben. Dennoch folge das Stück dieser Logik: «Dass Kassandra anders als in der antiken Erzählung nicht stirbt, sondern Klytämnestra sich mit ihr verbündet – das bewegt mich, weil es zeigt, dass die Geschichte auch anders sein kann.»

In diesem Geist hat Langensand mit Mitstreiter:innen das Netzwerk «art+care» gegründet. Hier soll die Erzählung vom vermeintlich autarken, von allen sozialen Verantwortungen befreiten Künstlergenie als patriarchale Fantasie demaskiert werden. Stattdessen sucht «art+care» ein Kunstverständnis, das Solidarität und Verbundenheit ins Zentrum stellt.

Für die Sorgerevolution

Eine Mitgründerin des Netzwerks und Teil des Ultra-Kollektivs ist die Theaterschaffende Mirjam Berger. «Es geht um nichts weniger als die Care-Revolution», erklärt Berger ihre Motivation zur Mitgründung und lacht. Diese passiere im Kleinen, beispielsweise eben bei Ultra, das vor zwei Jahren die Viertagewoche einführte, kurze Proben durchführt, in der Zusammenarbeit auch den Raum für private Probleme öffnet. Und sich in ihrer neusten Produktion «Where is your partner?» auch auf der Bühne mit den patriarchalen Machtstrukturen auseinandersetzt.

Die Frage, wie viel sie von sich preisgeben möchte, beschäftigt Langensand. So sehr, dass sie Ausgangspunkt für ihr nächstes Stück ist. In «All of Me – ein Teilversuch» fragt sie gemeinsam mit zwei Freund:innen nach der Verwundbarkeit einer Person, die zwar auf der Bühne steht, aber eben auch viel Persönliches mit dem Publikum teilt. Abermals also wird das Theater als Raum geöffnet, in dem Eigen- und Fremdwahrnehmungen neu geschrieben werden können.

«Kassandra und keine mehr»: Ab Dienstag, 27. Februar 2024, im Südpol in Kriens.