An der Grenze zu Ungarn: Auf Gleis 1, der Zug nach Budapest

Nr. 11 –

Vor acht Jahren verliess die Grossmutter Donezk in Richtung Kiew; nun haben die Sirenen und Schüsse sie wieder eingeholt. Wie eine ukrainische Familie – Frauen aus drei Generationen – dem Krieg entflieht.

«Viele vergessen, dass in unserem Land schon seit acht Jahren Krieg ist»: Kristina Melnki fährt vom ungarischen Grenzort Zahony nach Budapest.

Zuerst sei da nur ein grelles Licht gewesen, das sich ausgedehnt habe wie ein grosser weisser Ballon, dann sei der Knall gekommen, dumpf, ein zweiter und vielleicht ein dritter, Diana Melnki* weiss es nicht mehr, Menschen hätten geschrien und seien in alle Richtungen gerannt, und der Himmel habe sich verfärbt, grosse schwarze Wolken, wie in einem Trickfilm, erzählt Diana ohne Punkt.

Eine halbe Stunde später hatte sie ihren Rucksack gepackt: eine Handvoll Kleider, ein weisser Mascarastift, zwei Fingerringe, ein paar «Game of Thrones»-Bände, sie hatte sich flugs eine Trainerhose angezogen, dazu Turnschuhe, einen grauen Pulli, Handschuhe und ihre weisse Winterjacke mit dem Nasa-Schriftzug.

Das war am 25. Februar, dreissig Kilometer nördlich von Kiew.

Diana ist fünfzehn Jahre alt. Sieben Tage harrten sie, ihre Eltern und ihre Grossmutter im Luftschutzkeller aus. Dann fuhren sie im Bus nach Kiew, wo Kristina, Dianas ältere Schwester, sie erwartete. Und sie nahmen Abschied: von ihrem Vater, Kristina von ihrem Freund, mit dem sie zusammenwohnte. Wie alle Ukrainer zwischen achtzehn und sechzig Jahren wurden die beiden Männer ins Militär eingezogen. Für wie lange und was sie erwartet, das wissen sie nicht.

Mit dem Nachtzug fuhren die Frauen über den Südwesten des Landes nach Zahony, einem kleinen Grenzbahnhof auf der ungarischen Seite. Dort wurden ihre Pässe kontrolliert, Hilfsorganisationen, unter ihnen viele christliche, nahmen sie in Empfang. Die Nacht verbrachten sie in der Turnhalle der Schule, die im Auftrag der Gemeinde innert Tagen in ein Massenlager umfunktioniert wurde.

Das Ziel: Deutschland

Tags darauf steht Kristina Melnki im kleinen Bahnhofsgebäude von Zahony und sagt: «Die Dusche gestern Abend war das erste Mal seit einer Woche, dass ich ein wenig Zeit für mich hatte.» Eigentlich wollte die 26-Jährige in Kiew bleiben. Ihr Freund, ein paar Jahre älter als sie, ist Uhrenmechaniker, sie hat Biologie studiert, arbeitete bis vor zwei Wochen aber im Büro eines Unternehmens. «Ein gutes Leben war das», sagt sie, als wäre es für immer vorbei.

Wie viele der rund 275 000 Ukrainer:innen, die bis jetzt die ungarische Grenze überquert haben – insgesamt haben bereits drei Millionen das Land verlassen –, haben Kristina und ihre Familie ein Ziel; sie wollen nach Deutschland. Dort leben Bekannte von Elena Pawlenko, der Grossmutter. Sie stammen, wie Elena, aus Donezk in der Ostukraine und mussten 2014 in den Westen fliehen. «Viele vergessen, dass in unserem Land schon seit acht Jahren Krieg ist», sagt Kristina. Durch die Geschichte der Grossmutter sei der Konflikt im ostukrainischen Donbass bei ihnen zu Hause stets präsent gewesen.

Nach den Maidan-Protesten im November 2013 in Kiew liess Wladimir Putin im März 2014 die Halbinsel Krim einnehmen und sicherte wenig später den prorussischen Separatist:innen im Donbass seine unbedingte Unterstützung zu. Daraufhin besetzten diese die Gebiete um Donezk und Luhansk und riefen sie als unabhängige Volksrepubliken aus. Als Reaktion schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in die Ostukraine. Der seit damals andauernde Krieg trieb 1,5 Millionen Menschen in die Flucht und forderte 13 000 Tote, unter ihnen 3300 Zivilist:innen – die Opfer seit diesem Februar nicht mitgezählt.

Auch Elena Pawlenko floh kurz nach Ausbruch des Krieges aus Donezk in Richtung Kiew. Weniger wegen politischer Gründe oder einer antirussischen Haltung, sondern aus schierer Angst. Ihr Mann war ein Jahr zuvor verstorben, nun war sie allein und geriet über Nacht zwischen die Fronten. Ihre Tochter war schon Jahre zuvor mit dem Schwiegersohn in die Nähe von Kiew gezogen. Dort fanden sie, anders als im wirtschaftlich maroden Osten, wenigstens Arbeit. Elena packte ihre Sachen und fuhr mit dem Zug in den Westen zu ihrer Tochter, bei der sie dann wohnte. Bis vor drei Wochen Sirenen, Schüsse und Sprengsätze sie wieder einholten.

Rhetorik aus der Zarenzeit

Vieles, was Putin diese Tage verlauten lässt, wird der 68-jährigen Elena allzu bekannt vorkommen. Von «guten Ukrainern» redet der russische Präsident nun schon seit Jahren und meint damit die Bewohner:innen von «Neurussland», ein Ausdruck aus der Zarenzeit, der die südliche und östliche Ukraine benennt. Nur sie gehörten, wie die Belarus:innen, zum Brudervolk Russlands. Die «schlechten Ukrainer» dagegen kämen aus dem Westen und seien darauf aus, den Menschen im Osten ihre Werte aufzuzwingen. Schon bald bezeichneten die prorussischen Separatist:innen im Donbass sie als «Nazis». Diesem Narrativ entsprechend, sprach Putin kurz nach dem Angriff auf die Ukraine diesen Februar denn auch davon, das Land zu «entnazifizieren» und all jene vor Gericht zu bringen, die seit Jahren Verbrechen gegen die friedliche Bevölkerung im Osten der Ukraine verübten.

«Putin gefällt nicht, in welche Richtung sich unser Land entwickelt», sagt Kristina. Alle wüssten, dass eine unabhängige, ins westliche Bündnis strebende Ukraine für den russischen Präsidenten auf der ganzen Linie einen Affront darstelle. Und doch seien die meisten überrascht gewesen. «Niemals hätten wir gedacht, dass der Krieg bis nach Kiew kommt.»

Dass Putin im Frühjahr 2021 seinen Angriff in die Wege leitete, wie Geheimdienste warnten, nahm die ukrainische Bevölkerung kaum wahr. Damals wurden im Rahmen einer russisch-belarusischen Militärübung an der ukrainischen Grenze Truppen stationiert, die nach Ende des Manövers nicht mehr abzogen. Weitere Bataillone aus der Nähe Moskaus wurden ebenfalls in Richtung Ukraine verlegt. Die «Washington Post» zitierte eine anonyme Quelle aus dem US-Geheimdienst, wonach Putins Regierung Anfang 2022 eine Grossoffensive auf die Ukraine plane. Bereits damals waren 175 000 Soldaten kampfbereit an der Grenze.

Auch Kristina fürchtet inzwischen das Schlimmste: «Sie werden sich Kiew holen. Erst kommen sie mit ihren Panzern, und wenn das nicht reicht, werfen sie Bomben auf die Stadt. Es wird eine schlimme Schlacht.» Sie ruft jeden Tag den Vater an und spricht mit ihrem Freund; er sei in Sorge, er fürchte sich und wisse nicht, was als Nächstes komme. «Ich versuche, ihn zu unterstützen, so gut es geht, erzähle ihm, dass wir in Sicherheit sind und es uns an nichts fehlt.»

Solidaritätstickets oder Pushbacks

Eigentlich hätten Kristina und ihre Familie das Land über die polnische Grenze verlassen wollen, dann war aber von langen Wartezeiten die Rede. Als sie in Zahony ankamen, waren sie überrascht, wie unkompliziert sie einreisen konnten, wie herzlich sie am Bahnhof empfangen wurden. Tatsächlich können Geflüchtete aus der Ukraine mit einem «Solidaritätsticket» problemlos etwa nach Budapest weiterreisen. Das gilt auch für Menschen, die zum Beispiel in der Ukraine studieren, aber keinen ukrainischen Pass besitzen; insgesamt 76 000 Menschen aus über 150 Ländern.

Damit trägt Ungarn den Entscheid der EU für eine schnelle und unkomplizierte Aufnahme aus der Ukraine Geflüchteter vollumfänglich mit. Was erstaunen mag, hat sich doch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban seit 2015 innerhalb der EU mit einer teils offen rassistischen Migrationspolitik positioniert. Allein letztes Jahr wurden an der serbisch-ungarischen Grenze 70 000 Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus den Maghrebstaaten von der Grenzpolizei aufgegriffen und oft gewaltsam nach Serbien zurückgeschafft.

Inzwischen ist am Bahnhof von Zahony auf Gleis 1 der Zug nach Budapest eingefahren. Kristina hat sich den zu grossen Pullover ihres Freundes übergezogen, Diana stapft in ihrer Astronautenjacke voran. Sie sagt, sie wisse gar nicht, warum das alles passiere. Sie hätte doch zu Hause bleiben wollen. In die Schule gehen, sich mit ihren Freundinnen über Mangas unterhalten. Und endlich Dostojewski lesen. Von ihrer Schwester weiss sie, dass es in seinen Büchern um die ganz grossen Themen geht, um Sühne und Vergeltung, um Hoffnung und Verderben.

Die Zugreise nach Budapest wird vier Stunden dauern, dann will die Familie weiter nach Deutschland. Tags darauf und fast 2000 Kilometer westlich von Kiew tippen die Schwestern eine Nachricht: «Sind angekommen, müde, aber es geht uns gut.»

* Alle Namen geändert.

Mitarbeit: Sara Steiner.