Ukraine: Krieg der Stellvertreter wird heisser

Nr. 25 –

Im Osten des Lands versuchen immer mehr Menschen, vor den Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und den SeparatistInnen zu fliehen. Doch es fehlt ein humanitärer Korridor.

Den Auftritt von Mark Franchetti, Moskau-Korrespondent der britischen «Sunday Times», in der Kiewer Fernsehtalkshow «Schuster live» werden die beteiligten ukrainischen Politiker wohl so bald nicht vergessen. Der Journalist, der schon aus dem Tschetschenienkrieg kritisch berichtete und einer Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin unverdächtig ist, räumte in der Talkshow nämlich mit einigen Behauptungen ukrainischer Medien auf. Franchetti hatte drei Wochen in der Ostukraine verbracht und auch die Einheit Wostok, eine bekannte Kampfeinheit der SeparatistInnen, begleitet. Nun erzählte er dem Fernsehpublikum, dass er in der Einheit Wostok kaum russische Staatsbürger, dafür aber sehr viele einfache Ukrainer ohne Kriegserfahrung getroffen habe. Diese Männer hätten ihm erzählt, dass sie ihre Häuser «vor den Faschisten schützen» wollten.

Die TeilnehmerInnen der Talkshow guckten nervös. Geheimdienstchef Walentin Naliwaitschenko rollte mit den Augen. Ein junger Kommandeur der Spezialeinheit Dnjepr verzog das Gesicht. Franchetti schilderte weiter, dass die Wostok-Einheit versucht habe, einen Posten der ukrainischen Grenztruppen zu stürmen. Dabei sei es zu einem schweren Gefecht gekommen; viele Aufständische seien verwundet worden. Die Einheit habe sich dann auf russisches Gebiet geflüchtet. Dort seien die Wostok-Kämpfer von russischen Grenzbeamten entwaffnet und festgenommen worden.

An diesem Punkt der Erzählung war die Geduld der TalkshowteilnehmerInnen endgültig zu Ende. Anton Geraschenko, Berater des ukrainischen Innenministers, meinte, das, was Franchetti an der ukrainisch-russischen Grenze erlebt habe, sei eine «sehr gut durchgeführte Spezialoperation des russischen Geheimdiensts» gewesen. Es wisse doch jeder, dass Russland Waffen und Geld an die Aufständischen liefere.

Keine Fluchtkorridore

Tatsächlich legen viele Indizien den Schluss nahe, dass Russland im Bürgerkrieg in der Ostukraine mitmischt. Allerdings zeigen nicht nur Franchettis Beobachtungen, dass es zu einfach ist, dem Land die Drahtzieherrolle zuzuschreiben. Vielmehr haben die Auseinandersetzungen zwischen der ukrainischen Regierung einerseits und föderalistischen beziehungsweise separatistischen Kräften andererseits eine Eigendynamik entwickelt, die das Land in einer Gewaltspirale gefangen hält.

So werden in den umkämpften Städten immer häufiger auch Schulen und Krankenhäuser von Granaten getroffen. Fast täglich sterben ZivilistInnen und Kinder. Für das Leiden der Zivilbevölkerung machen die meisten ukrainischen Medien jedoch, ganz auf der Linie der Regierung, die «prorussischen Terroristen» verantwortlich, die angeblich Wohnhäuser beschiessen. Nach Berichten von Augenzeugen vor Ort, von Aufständischen und russischsprachigen Medien ist aber etwa in der Stadt Slawjansk die Wasser- und Stromversorgung wegen ukrainischen Artilleriebeschusses zusammengebrochen. Täglich verlassen Busse und Taxis mit Flüchtlingen die Stadt. Die Hälfte der 100 000  EinwohnerInnen soll schon geflohen sein, die Mehrheit von ihnen nach Russland. Wer dagegen der ukrainischen Regierung traut, flüchte in ukrainische Regionen, sagt Pawel Michalow, Radiojournalist beim neu gegründeten Radio Donezk.

Der neu gewählte ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat den Menschen, die aus den Kriegsgebieten fliehen wollen, humanitäre Korridore versprochen, diese aber bisher nicht realisiert. Am Montag gab nun der Chef des ukrainischen Sicherheitsrats, Andrej Parubi, bekannt, man werde einen Korridor schaffen, aber nur für bewaffnete SeparatistInnen, die bereit sind, nach Russland abzuziehen.

Rechtsnationale Unterstützung

Zu den BeraterInnen der ostukrainischen SeparatistInnen gehört der bekannte rechtsnationale Moskauer Eurasienphilosoph Alexander Dugin. Er hat das Mitte Mai im Jugendpalast von Donezk von 1500 AktivistInnen gegründete Netzwerk Noworossia mit vorbereitet. Noworossia will in der Südostukraine einen «echt russischen» Staat gründen. Historisch orientiert man sich am Gebiet Noworossia, das nach dem Russisch-Türkischen Krieg im 18. Jahrhundert in das russischen Imperium eingegliedert wurde.

Die neue Bewegung greift in der Bevölkerung populäre Forderungen nach Nationalisierung der Grossbetriebe auf, besteht aber gleichzeitig auf der Festschreibung der Rolle der russisch-orthodoxen Kirche als staatsbildende Kraft.

Freiwillige für den Krieg in der Ostukraine werden in Russland von nationalistischen Organisationen wie der Eurasischen Jugend und der Russischen Imperialen Bewegung angeworben. Für die SeparatistInnen in der Ostukraine ist das aber zu wenig. So klagt Igor Strelkow, Oberkommandierender der «Donezk-Armee», dass die Aufständischen über kurz oder lang von der Übermacht der ukrainischen Armee zerrieben würden, wenn nicht endlich reguläre Truppen aus Russland kämen.

Dass die russische Regierung dies veranlassen könnte, scheint unwahrscheinlich – auch wenn in den Führungsstrukturen der «Volksrepublik Donezk» gut ausgebildete Männer aus Russland sitzen. Igor Strelkow etwa stammt aus Moskau, war Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB und war schon im Tschetschenienkrieg als Experte für die russische Armee für «besondere Aufgaben» im Einsatz. Der Ministerpräsident der «Volksrepublik Donezk», Alexander Borodaj, arbeitete in Moskau als Journalist.

Russland nach Asien zurückdrängen

Was sich zurzeit in der Ukraine abspielt, erinnert an den Kalten Krieg, als sich die Sowjetunion und die USA über Stellvertreterkriege in Afghanistan und Afrika bekämpften, direkten Konfrontationen aber aus dem Weg gingen. So scheinen die USA, aber auch verschiedene Staaten der EU die ukrainische Regierung darin zu bestärken, ihre militärische Operation in der Ostukraine weiterzuführen.

Sergej Tolstow, Kiewer Experte für internationale Beziehungen, sieht die Ukraine gar als einen Vorposten einer von den USA geführten Politik des Kalten Kriegs mit dem Ziel, Russland «nach Asien zurückzudrängen». Er hofft nun auf Deutschland und Frankreich und darauf, dass die beiden Staaten mit Moskau und Kiew einen Kompromiss aushandeln. Klar ist: Wenn der Westen wirklich will, könnte er Kiew sofort dazu zwingen, die Militäroperation abzubrechen und Verhandlungen mit den SeparatistInnen aufzunehmen. Denn die Ukraine ist mittlerweile von westlichen Krediten abhängig.

Ein Hoffnungsschimmer?

Am Mittwoch hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko erklärt, er werde in den nächsten Tagen eine Feuerpause anordnen, damit die «ungesetzlichen bewaffneten Einheiten» ihre Waffen niederlegen könnten. Ausserdem sprach er von einem «Friedensplan», ohne diesen jedoch genauer zu erläutern. Tags zuvor hatte er mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gesprochen.

Wie weit die Ankündigung Poroschenkos zu einer Deeskalation der Lage beiträgt, ist offen. In den vorangegangenen Tagen hatte alles auf eine weitere Eskalation hingedeutet. So hat Russland die Gaslieferungen an die Ukraine gestoppt. Ausserdem hatten Separatisten am Samstag ein ukrainisches Militärflugzeug abgeschossen und dabei 49 Menschen getötet. Poroschenko hatte darauf mit Vergeltung gedroht, und in Kiew war es zu wüsten Szenen vor der russischen Botschaft gekommen.