Im Osten der Ukraine: Die Stunde null von Slowjansk
Drei Jahre nach dem Kriegsausbruch wird in Slowjansk, der ehemaligen Hochburg der prorussischen SeparatistInnen, die Loyalität zu Kiew nicht mehr offen infrage gestellt. Doch die alten Konflikte wirken bis heute nach.
An den Wänden des Jugendzentrums in Slowjansk hängen Fotos und Texte, die das Leben junger OstukrainerInnen seit der Flucht aus dem Kriegsgebiet dokumentieren. Die Geschichte von Katja etwa, die aus Donezk floh – mit einer schusssicheren Weste, einem Föhn und Kinderfotos. Dass es ein Abschied auf Jahre, vielleicht für immer sein könnte, hätte die junge Frau damals nie gedacht. Fünf Mal ist sie mit ihrer Familie allein im vergangenen Jahr schon umgezogen. «Ich bin von alledem schon so unendlich müde geworden», steht an der Wand im Jugendzentrum.
Jewgenij Skripnik, ein schlaksiger Jugendlicher im Kapuzenpulli, führt durch die Räume. Der Krieg hat viel Leiden in den Donbass gebracht, sagt er und weist auf die Bilder an der Wand. Zugleich sei es ein «Weckruf» gewesen, sagt der Neunzehnjährige abgeklärt. «Mir wurde klar, dass ich selbst aktiv werden musste.»
So hat Skripnik vor zwei Jahren mitgearbeitet, das Zentrum Teplizja (Wintergarten) in der ostukrainischen Stadt Slowakin, die 110 000 EinwohnerInnen hat, aufzubauen. Unterstützt von einer Stiftung aus der Westukraine, haben sie sich in ein Gassenlokal im Zentrum der Stadt eingemietet. Helle Räume, ukrainische Gedichte an der Wand, Flipcharts. Am Abend wird ein Dichter in Landestracht die Ukraine besingen und über Natur und Heimat philosophieren. Die Gäste werden die Fragen auf Russisch stellen, er wird auf Ukrainisch antworten.
Sowjetisch geprägt
Der Regen prasselt auf das Vordach, draussen reihen sich graue Plattenbauten aneinander, an denen Plakate hängen: «Donbass – unser Landstrich». Es ist die erste Schneeschmelze, die Schlaglöcher auf den Strassen der Stadt, die neunzig Kilometer nördlich von Donezk liegt, haben sich in tiefe Wasserlachen verwandelt.
Nicht immer war die Lage in Slowjansk so entspannt. Am 12. April 2014 wurden Verwaltungsgebäude unter der Leitung des russischen Kommandeurs Igor Girkin besetzt. Kurz darauf wurde die Stadt von der ukrainischen Armee beschossen. Dies gilt als Beginn des Kriegs in der Ostukraine, der bis heute anhält und laut UN-Angaben 10 000 Todesopfer gefordert hat (vgl. «Millionen Vertriebene» im Anschluss an diesen Text). Dabei kam Slowjansk noch relativ glimpflich davon: Im Sommer 2014 kam es wieder unter ukrainische Kontrolle; heute verläuft die Frontlinie zwischen der Armee und den prorussischen SeparatistInnen achtzig Kilometer weiter im Osten.
Dass gerade in Slowjansk die prorussischen SeparatistInnen Fuss fassen konnten, sei kein Zufall gewesen, glaubt Skripnik. Eine verschlafene Provinzstadt, wirtschaftlich eng mit Russland verflochten, stark sowjetisch geprägt und daran gewöhnt, dass andere über ihr Schicksal entscheiden: Das habe viele EinwohnerInnen empfänglich für die Losungen des «Russischen Frühlings» gemacht, der mit einem besseren Leben im Verbund mit Russland lockte, und offen für die russische Propaganda, die die PolitikerInnen in Kiew als Faschisten schmähte. Nur eine mündige Zivilgesellschaft könne verhindern, dass sich solche Ereignisse wiederholen. «Nur wer seine Heimat und seine Geschichte kennt, ist immun gegen die Propaganda», sagt Skripnik.
Wenige Meter weiter liegt der Hauptplatz von Slowjansk. Vom wuchtigen Bronze-Lenin ist nur noch der Sockel geblieben, wie bei so vielen Statuen in der Ukraine, die im Zuge der «Entkommunisierung» gestürzt wurden. Dahinter ragt ein fünfstöckiger Betonblock in den Himmel. Ein Plakat in Blau-Gelb, den Farben der ukrainischen Flagge, heisst die BesucherInnen in der Stadtverwaltung willkommen. Hier haben sich vor drei Jahren die SeparatistInnen wie in einer Festung verschanzt und zum Widerstand gegen die neue Regierung in Kiew aufgerufen.
Denis Bihunow, der zuvor in der Stadtverwaltung gearbeitet hat, erinnert sich noch gut daran. Als Girkins Männer über Slowjansk herrschten, wurde sein Arbeitszimmer zu einer Folterkammer umgebaut. Im Keller des Gebäudes wurden Menschen gefangen gehalten, etwa die damalige Bürgermeisterin, die zu Beginn noch mit den SeparatistInnen sympathisiert hatte, doch dann in Ungnade fiel. Bihunow hielt sich in dieser Zeit von den Kämpfern fern. Handtücher, Klebstreifen und eine Matratze, mit Schmutz und Speichel übersät, fand er in seinem Kabinett vor, als die prorussischen Kämpfer aus der Stadt türmten.
Doch diese schlimmen Bilder sind nicht der Grund, warum er heute nicht mehr in der Verwaltung sitzt. Der 29-Jährige wollte auch seine Heimatstadt im Sinne der «Revolution der Würde», wie die Protestbewegung des Maidan von AnhängerInnen genannt wird, umbauen. Für einen Neuanfang für Slowjansk: eine EU-Annäherung, ein ukrainisches Bewusstsein und gegen die Korruption.
Dafür hat Bihunow die Seiten gewechselt. Er ist Aktivist der Organisation Starke Kommunen geworden. Von der US-Entwicklungsagentur USAid unterstützt, deckt er mit Kollegen Missstände in der Regionalpolitik auf und pocht auf Bürgerrechte. Als sich der Bürgermeister zuletzt mit Staatsgeldern Sendezeit bei einem lokalen Fernsehsender kaufte, ging Bihunow damit an die Öffentlichkeit und organisierte einen Protest. Der Vertrag mit dem Fernsehsender wurde aufgelöst, die 100 000 Hrywnja (knapp 3500 Euro) wieder in das Staatsbudget zurückgezahlt.
«Die Politik weiss jetzt, dass wir sie kontrollieren», sagt Bihunow. So sei es die korrupte Elite im Donbass gewesen, die noch nie vor den BürgerInnen Rechenschaft ablegen musste, die den «Russischen Frühling» erst ermöglicht habe. Inzwischen nimmt der Bürgermeister an Diskussionsrunden der AktivistInnen teil. Die Sitzungen des Stadtrats werden online übertragen. Dass die PolitikerInnen heute offener für den Dialog sind, ist einer der kleinen Schritte, die Slowjansk seit 2014 verändert haben, glaubt Bihunow.
Loyal und kritisch
Optisch ist Slowjansk heute fest in ukrainischer Hand. Kaum ein Geschäft, das nicht die blau-gelbe Fahne gehisst hat, kaum ein Plakat, das nicht die Einigkeit mit Kiew beschwört. Von der Symbolik solle man sich indes nicht blenden lassen, sagt Bürgermeister Wadim Ljach. Zwar wird die Loyalität zu Kiew hier nicht mehr offen infrage gestellt. Trotzdem habe die ukrainische Zentralregierung zu wenig getan, um die Herzen und Köpfe der BewohnerInnen zu erobern. Von den knapp 130 Häusern, die hier im Krieg zerstört wurden, seien bisher nur 30 vom Roten Kreuz wieder errichtet worden. In den Wohngebieten stehen bis heute ausgebombte Häuser. Dass Kiew nicht alle Hebel in Bewegung setzt, um Slowjansk wieder aufzubauen, habe für viel Misstrauen gesorgt. «Sollen wir etwa so für die Ereignisse von 2014 bestraft werden?», fragt Ljach. «Nur weil wir kritisch gegenüber Kiew sind, heisst das nicht, dass wir für Russland sind.»
Ljach war viele Jahre Mitglied der Partei der Regionen des nach Russland geflüchteten Expräsidenten Wiktor Janukowitsch und wurde für die Nachfolgepartei Oppositionsblock 2015 zum Bürgermeister gewählt. Man könnte seine Worte als Oppositionsrhetorik abtun, würde seine Kritik nicht auch von vielen anderen geteilt. Die Vorbehalte gegen die Ostgebiete sind in Kiew immer noch gross, kritisiert Heorhiy Tuka, Vizeminister für die besetzten Gebiete. «Es gibt das Klischee, dass dort alle Separatisten sind.»
Hinzu kommt, dass die Wirtschaft am Boden liegt. Zwar sind in Slowjansk inzwischen wieder achtzig Prozent der Fabriken aus der Vorkriegszeit in Betrieb. Aber: «Nicht eine einzige Grossinvestition hat es in den vergangenen Jahren in der Region gegeben», sagt Ljach. «Geld liebt nun mal Ruhe.» Auch wenn man in Slowjansk längst von einer «Nachkriegszeit» spricht – für Investoren ist der Krieg, der von hier immerhin noch zwei Autostunden entfernt weitergeht, noch immer laut genug. Eine aufkeimende Zivilgesellschaft und ein Jugendzentrum seien das eine – eine Wirtschaft, die den Menschen in der Region auf lange Sicht eine Perspektive geben kann, das andere.
Zurück im Jugendzentrum. Zukunftssorgen sind nichts, was Jewgenij Skripnik anficht. Er möchte in Slowjansk bleiben, trotz der tristen wirtschaftlichen Lage. Er fragt rhetorisch: «Wer soll die Stadt verändern, wenn nicht wir?
Der europäische Krieg : Millionen Vertriebene
Seit drei Jahren herrscht Krieg im Osten Europas. Als am 12. April 2014 unter der Leitung des russischen Kommandeurs Igor Girkin (Kampfname: Strelkow) die ersten Verwaltungsgebäude in der Stadt Slowjansk besetzt wurden, kam es in der Ostukraine zu den ersten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen SeparatistInnen.
Auslöser für die Unruhen war der sogenannte Euromaidan in Kiew: Seit November 2013 hatten auf Kiews zentralem Platz, dem Maidan, Hunderttausende UkrainerInnen für das EU-Assoziierungsabkommen und gegen den Präsidenten Wiktor Janukowitsch, der das Abkommen zum Platzen gebracht hatte, demonstriert. Als das Zeltlager am Maidan von Sicherheitskräften geräumt werden sollte, eskalierte die Gewalt. Rund hundert Menschen starben bei Zusammenstössen mit der Polizei. Janukowitsch floh nach Russland. Die DemonstrantInnen hatten gesiegt.
In russischen Medien wurde der Umsturz in Kiew als «faschistischer Putsch» geschmäht – Vorbehalte, die vor allem im Osten des Landes auf fruchtbaren Boden fielen. In den folgenden Wochen liessen sogenannte Volksmilizen die Donezker und Luhansker Volksrepubliken ausrufen und forderten eine Angliederung an Russland. Doch anders als auf der ukrainischen Halbinsel Krim, die zuvor von Russland annektiert worden war, wurden die abtrünnigen Gebiete in der Ostukraine selbst nach einem umstrittenen Referendum im Mai 2014 nicht an Russland angeschlossen. Bis zum Sommer gelang es der ukrainischen Armee, Teile des Donbass wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Über separatistisch kontrolliertem Gebiet wurde im Juli 2014 ein malaysisches Passagierflugzeug abgeschossen, dabei kamen 298 Menschen ums Leben.
Der Konflikt zwischen den selbsternannten Volksrepubliken und der Ukraine ist weiter ungelöst. Die unter internationaler Vermittlung vereinbarten Abkommen von Minsk I und II haben den Konflikt zwar eingedämmt, aber nicht gelöst. An der rund 500 Kilometer langen Frontlinie wird bis heute ständig geschossen, die Kämpfe kochen immer wieder hoch.
Laut Uno-Angaben sind in den drei Kriegsjahren fast 10 000 Menschen gestorben. 1,7 Millionen Menschen gelten nach Angaben der ukrainischen Behörden als Binnenflüchtlinge. Die Volksrepubliken, die international von niemandem anerkannt werden, werden militärisch und wirtschaftlich von Russland am Leben erhalten – wohl, um weiter Einfluss auf die Ukraine auszuüben. Moskau bestreitet indes eine direkte Unterstützung.
Simone Brunner