Essay: Der Untergang des Denkbaren
Wladimir Putin versucht, die Geschichte neu zu schreiben. Dagegen Widerstand zu leisten, heisst auch, sich von der Diktatur einer fremden Fantasie zu befreien. Die russische Autorin Maria Stepanova über den Kampf um die Unabhängigkeit des eigenen Verstands.

Immer wieder schaue ich mir die Fotos aus der Ukraine an, aufgenommen in den endlosen vierzehn Tagen eines Krieges, der so unvorstellbar schien, dass es selbst jetzt noch schwer zu glauben ist, dass das alles tatsächlich geschieht.
Da sind die Strassen von Charkiw – Müll, Trümmer, schwarze Löcher anstelle von Fenstern, die Umrisse wunderschöner Häuser mit ausgebranntem Innern. Da ist der Bahnhof, ein Pulk Flüchtender auf dem Perron versucht, noch einen Platz im gerade abfahrenden Zug zu ergattern. Da ist die Frau mit dem Hund auf dem Arm – sie müssen es in Kiew in den Luftschutzbunker schaffen, bevor der Raketenbeschuss beginnt. Die Entbindungsklinik in Mariupol nach dem Raketenbeschuss, ich werde sie nicht beschreiben. Bombardierte Wohnhäuser in der Stadt Sumy.
Meine achtzigjährige Freundin erzählt von einem Traum, den sie einst hatte: ein riesiges Feld, auf dem Menschen in eisernen Betten liegen, überall Menschen, Menschen, Menschen. Über dem Feld ertönt ein Stöhnen. Ich, sagt sie, wusste schon immer, dass das zu erwarten war. Dass so etwas eintreffen wird.
Ein monströses Reenactment
Von Katastrophen träumen die Menschen oft in diesem Raum, der sich nur noch schwer als postsowjetisch bezeichnen lässt: Ich denke, er wird schon sehr bald einen anderen Namen haben, vielleicht mehrere Namen. Üblicherweise hat die Katastrophe im Traum mit einem Krieg zu tun, der dem Zweiten Weltkrieg sehr ähnlich ist, mit einer Verhaftung, einem Gefängnis, einem Konzentrationslager. Solche Träume haben jene, die den damaligen Krieg erlebt haben, sowie jene, die heute gerade mal in ihren Zwanzigern sind und deren Nächte eigentlich nicht zum Raum für die Ängste und Verzweiflung von vor achtzig Jahren werden sollten. Aber auch ich selbst bin da keine Ausnahme.
In den letzten Tagen, den letzten Nächten sind diese Träume dabei, Realität zu werden. Eine Realität, die furchteinflössender ist, als wir es uns je hätten vorstellen können. Eine, in der die Gewalt, die Aggression, das Böse Russisch spricht. Oder wie jemand kürzlich auf Social Media schrieb: «Ich träume, dass die Nazis uns eingenommen haben – und dass wir diese Nazis sind.»
Das Wort «Nazi» ist eines der häufigsten im politischen Vokabular des russischen Staates. Es wird in Wladimir Putins Reden und den Leitartikeln der offiziellen Propaganda verwendet, um auf die feindliche Macht zu verweisen, die sich in ihren Augen in der Ukraine eingenistet hat. Ein Feind, der so mächtig ist, dass er nur durch bewaffnete Aggression bekämpft werden kann und muss – durch die Bombardierung von Wohnquartieren, die Zerstörung alles Lebendigen in den Städten und Dörfern, aller lebendigen Struktur menschlicher Schicksale. Das Wort «Nazi» löst immer noch Entsetzen aus – und in unserer modernen Welt gibt es genügend Personen, auf die es angewendet werden kann. Doch die Propaganda nutzt das Wort wie eine schwarze Markierung, die sie allen Möglichen aufdrückt: Nenn deinen Gegner einen Nazi – und alle Mittel sind erklärbar und gerechtfertigt.
Die Mittel in diesem Krieg sind sorgfältig durchdacht – eine Armee, die als modern, technologisch fortschrittlich und hocheffizient galt, wendet Methoden an, die aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg entlehnt zu sein scheinen. Jeder Krieg ist beängstigend und abstossend – dieser hier nimmt dennoch eine besondere Stellung ein. Panzerverbände, die sich über die Strassen erstrecken, Bombardierungen, Stadtviertel, die in Ruinen verwandelt werden. Das, was wir auf Video und jene, die gerade in der Ukraine sind, direkt vor sich sehen – das alles erscheint wie ein monströses Reenactment, eine Inszenierung, in der mit echten Granaten geschossen wird, in der lebende Menschen zu Zielscheiben werden. Das ist etwas Neues, das ganz und gar nicht wie eine pragmatische Militäroperation erscheint; und zugleich ist es etwas völlig Anachronistisches – ein Krieg des 20. Jahrhunderts, übertragen auf die Plätze des 21. Jahrhunderts.
Wir beobachten ihn in Echtzeit, vor Bitterkeit und Scham darüber erschaudernd, dass dies gerade jetzt passiert: Wieder will jemand die Welt nach seinem Ermessen umgestalten, ohne Rücksicht auf das, was die Menschheit darüber denkt. Gewalt als alles entscheidendes Argument im Gespräch über die Zukunft gefährdet ebendiese Zukunft. Das, was gerade in der Ukraine geschieht – und in Russland und Belarus, die längst zu Geiseln ihrer Herrscher wurden –, geht alle etwas an.
Wir stehen auf den Trümmern
Was wir jetzt erleben, kann man als Untergang des Denkbaren bezeichnen. Über viele Jahrzehnte hinweg nutzte die westliche Vorstellungskraft die Industrie der Fiktion als eine Art Versuchsfeld (in der gesamten Breite ihrer Genres – von Hochliteratur bis zu Hollywoodfilmen und TV-Serien). Was eigentlich zu fürchten und zu meiden war, bevölkerte zahlreiche Dystopien. Szenarien einer schrecklichen Zukunft wurden darin erprobt und auf ihre Plausibilität hin überprüft – und wurden dabei ganz nebenbei zu etwas Vertrautem und Ungefährlichem, wie Filme über Ausserirdische und Zombies, denn: «Das ist doch erfunden!»
Totale elektronische Überwachung, ein Krieg der Starken gegen die Schwachen oder Umweltkatastrophen finden als künstlerische Experimente statt: Stellen wir uns ein solches, in der Realität selbstverständlich unmögliches, Szenario vor. Zuzulassen, dass das Undenkbare – also aus der kollektiven Vorstellung als unmöglich Verdrängte – an einem gewöhnlichen Wintermorgen tatsächlich in den Alltag einbrechen könnte, wäre eine Katastrophe, die alle Vorstellungen über die Gegenwart mit ihrem Gesellschaftsvertrag hinwegfegen würde. Einem Vertrag, der auf die Notwendigkeit von Verständnis, Empathie, gesundem Menschenverstand (und einer gewissen Skepsis gegenüber alarmistischen Prognosen) hinausläuft. Doch inzwischen ist diese Vorstellung Wirklichkeit, und wir stehen auf den Trümmern.
Dieser ungerechte Krieg auf fremdem Territorium mit seinen Verbrechen und Opfern (die bereits in die Millionen gehen, wenn wir nicht nur von den Toten sprechen, sondern auch von jenen, die verwundet wurden, ihr Zuhause verloren haben, ihrer Angehörigen, ihrer Zukunft beraubt wurden) wird vom Aggressor nach dem Gesetz von Kunstwerken, Filmen oder Büchern geführt, in denen die Ereignisse vom Willen dessen bestimmt werden, der sie erschafft. Bloss wird das Buch von einem sehr schlechten Autor geschrieben – und das im doppelten Sinn: Denn nur ein schlechter Mensch und untalentierter Schriftsteller schert sich überhaupt nicht um seine Figuren. Es ist ihm egal, ob sie leben oder sterben, es kümmert ihn nicht, was sie wollen oder brauchen, und schon gar nicht ist er bereit, ihnen irgendwelche Freiheiten zuzugestehen. Was ihn interessiert, ist bloss die eigene Urheberschaft, die Durchsetzung des eigenen Willens und die Möglichkeit, den Text und die Ereignisse zu kontrollieren.
Genau das tut Wladimir Putin jetzt. Er setzt seinen persönlichen Willen durch und versucht, die Geschichte der Ukraine und Europas neu zu schreiben, unsere Gegenwart zu verändern und die Zukunft vorherzubestimmen. Er versucht, die Ukraine, Russland, Europa, die Welt (und alle, die ihre Newsfeeds zurzeit immer aufs Neue aktualisieren) in ein sehr schlechtes Buch hineinzuziehen, das er selbst geschrieben hat. Er rechnet damit, dass wir alle jetzt in diesem Buch existieren; er will unser Autor sein, unser Drehbuchautor, derjenige, der weiss, wie er unser Leben zum Besseren verändern kann. Was dabei herauskommt, wissen wir.
Das Andere verschlingen
Man könnte sagen, dass dies die Essenz jeder Diktatur und die Logik jedes Diktators ist: die Behauptung des eigenen Solipsismus, die Betrachtung der lebendigen, bewohnten Welt als Stillleben, als totes Objekt, als stumme Teller auf dem Tisch, die nicht schreien würden, wenn man sie zerschlägt. Doch mir scheint, dass dies ein besonderer Fall ist: Hinter der Bewegung russischer Truppen steht die aufrichtige Angst vor der Existenz des Anderen, das leidenschaftliche Streben danach, dieses Andere zu unterjochen, es umzugestalten, es in sich aufzunehmen und sich anzueignen, es zu schlucken, zu verschlingen.
Etwas Ähnliches beschreibt der irische Autor C. S. Lewis in seinen «Screwtape Letters» (1942, deutscher Titel: «Dienstanweisung für einen Unterteufel»): Die Dämonen dort ernähren sich von menschlichem Schmerz und Verzweiflung, und ihre Geschwisterlichkeit reduziert sich auf den Wunsch, einen der ihren zu fressen. Wenn ich die Überlegungen russischer Politiker über das ukrainische Brudervolk höre, das man bloss zur Vernunft bringen müsse, nehme ich einen klaren Schwefelgeruch wahr.
Der Krieg in der Ukraine wird von Putin mit dem Zorn und der Hartnäckigkeit eines Mannes geführt, der mit dem Land eine persönliche Rechnung offen hat und für den Sieg zu allem bereit ist – aber nicht so, wie man in einer Welt nuklearer Abschreckung, der Verhandlungen, Vereinbarungen und Zugeständnisse gewinnt, sondern als wäre alles Wichtige bloss eine Art liebevoll ausgearbeitetes Szenario, eine kompensatorische Ersatzhandlung. Demnach muss die Ukraine unbedingt gedemütigt und aller Attribute jeglicher Unabhängigkeit und Autonomie beraubt werden: von der rechtmässig gewählten Regierung (sogenannte Entnazifizierung) über die Armee (das Land soll zur entmilitarisierten Zone werden) bis zu den Ansprüchen auf verlorene Territorien (die Aufgabe der Krim und des Donbass).
Doch auch das ist noch nicht genug. Noch vor Beginn irgendeines Verhandlungsprozesses musste die Ukraine rituelle Bestrafungen durchlaufen – es galt, sie öffentlich, laut und live im Fernsehen in die Knie zu zwingen –, um ihren Bewohner:innen und allen, die von der Seitenlinie aus zuschauen, zu zeigen, was mit jenen passiert, die nicht gehorchen. Die Brutalität, mit der dieser Krieg geführt wird, scheint unerklärlich, wenn man nicht dieses, man könnte sagen, erzieherische Ziel vor Augen hat. Wenn Europa unser Haus ist, will Putin zeigen, wer in diesem Haus der Herr ist. Zerstörte Städte und zerbrochene Leben als Anschauungsmaterial, an das man sich noch lange erinnern soll. Doch es gibt noch einen weiteren Punkt, und dieser erscheint mir wichtig.
Das, was jetzt geschieht, spielt sich bereits unumkehrbar ebenso im Raum des Symbolischen ab wie auf den echten Feldern und in den Luftschutzbunkern. Die Ukraine ist heute Schauplatz des uralten Kampfes zwischen Gut und Böse, so hochtrabend das auch klingen mag; von seinem Ausgang hängt das Schicksal aller ab, nicht bloss das der Ukraine und Russlands. Das Böse ist ein altmodischer Begriff. Die Nachkriegsjahrzehnte haben uns daran gewöhnt, uns auf der Suche nach Verständnis, einem Kompromiss und Dialog reflexartig in den Gegner hineinzuversetzen. Doch manchmal gibt es niemandem zum Reden – anstelle eines Gesprächspartners bloss undurchdringliche Dunkelheit, um jeden Preis auf dem eigenen Standpunkt beharrend.
Tote Ideen mit neuem Blut
Jetzt entscheidet sich, in welcher Welt wir leben werden – und in gewisser Weise leben und agieren wir bereits in der dunklen Grube eines fremden Bewusstseins, in die wir mit Gewalt hineingezogen wurden. Es beschwört archaische Vorstellungen aus der Vergangenheit herauf: über «Völker», die besser oder schlechter sein können, höher oder niedriger auf der Skala irgendeiner schwer fassbaren Grösse. Darüber, dass «alle Ukrainer:innen» (oder Jüdinnen, Russen, US-Amerikanerinnen und so weiter) «so sind» (schwach, geizig, unterwürfig, feindselig). Diese Pappfiguren spazieren bereits durch die kollektive Fantasie, als stünden wir vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. «Die Toten greifen nach den Lebenden», wie man in Russland sagt. In diesem Fall sind es tote Ideen und Vorstellungen, in die, wie in einem Horrorfilm, neues Blut strömt und die zu töten bereit sind.
Die Zeit macht gehorsam eine Kehrtwende, zurück in die stickige Vergangenheit, die uns einst nachts in Angst und Schrecken versetzte. Zunächst einmal besteht eine der Aufgaben der «Militäroperation» darin, die Uhren um acht Jahre zurückzudrehen, die Ukraine zurück in einen Zustand zu versetzen, den der Kreml gerne für immer bewahren würde. Schon zaubern sie einen leicht verschimmelten Janukowitsch aus der Truhe: bereit, ihn in den Präsidentensessel zurückzuhieven. Als wäre es schon immer so gewesen – und wir hätten uns die Maidan-Revolution und die acht Jahre elektorale Demokratie bloss eingebildet, als hätten wir nur geträumt. Der Krieg des 21. Jahrhunderts versucht das 20. zu imitieren: zurück in die Zeit des Massensterbens und monströser historischer Experimente.
Heute ist dieser Krieg zwar mit einer neumodischen Abhängigkeit von «Bildern» verbunden – doch auf den Bildschirmen herrscht bloss tiefes, grabähnliches Altertum. Sich dem heute zu widersetzen, heisst auch, sich von der Diktatur einer fremden Fantasie zu befreien: von einem Weltbild, das uns von aussen aufgezwungen wird und unwillkürlich unsere Träume, Tage und Newsfeeds erfasst. In der Ukraine findet gerade ein Überlebenskampf statt: ein Kampf um die Unabhängigkeit des eigenen Verstands – in jedem Haus, in jedem Geist. Hier wie dort ist Widerstand unabdingbar.
Gestern habe ich einem Freund zum Geburtstag gratuliert, habe – wie ich es bei solchen Gelegenheiten oft tat – «Hurra» geschrieben. Dann habe ich mich selbst unterbrochen. Ein schlechtes Wort.
«Alles brennt und raucht», sagten wir früher über die Hektik bei der Arbeit, wenn du fünf Dinge auf einmal erledigst und deshalb zu nichts kommst. Das ist jetzt unmöglich. Denn hier brennt und raucht es nicht.
Früher benutzte ich oft den harmlosen Spruch «Ein Soldat tut keinem Kind etwas zuleide», was bedeutet, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen. Alles wird gut, wir kriegen das schon hin. Nun gibt es den Spruch nicht mehr, über Soldaten und Kinder lesen wir via VPN in Publikationen, die in Russland verboten sind.
Ich schreibe dies alles auf Russisch, und mit jedem Satz wird das Schreiben schwieriger. Die Sprache, ihr lebendiger Gebrauch, ändert sich als Erste. Sie ist wie Erde, darin alte Minen, die plötzlich zu explodieren beginnen, wenn du übers Feld läufst. Jetzt sind sie alle zum Leben erwacht. Die Sprache trifft keine Schuld, ebenso wenig wie die Erde. Doch sie ist bereits anders geworden, von Löchern und Lücken durchdrungen – und es werden bloss immer mehr werden.
Aus dem Russischen von Anna Jikhareva.
Die Chronistin
Die Moskauer Lyrikerin und Schriftstellerin Maria Stepanova (49) ist eine der profiliertesten Stimmen des literarischen Lebens in Russland. Sie ist Autorin zahlreicher Gedicht- und Essaysammlungen, ihre Texte wurden in Dutzende Sprachen übersetzt, ihre Bücher mehrfach ausgezeichnet.
Die deutsche Übersetzung von Stepanovas erstem Roman erschien 2018 unter dem Titel «Nach dem Gedächtnis» im Suhrkamp-Verlag. Darin beschäftigt sie sich mit den Mechanismen der individuellen und kollektiven Erinnerung – und nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer Familie und die Geschichte Russlands. 2020 publizierte Suhrkamp den Band «Der Körper kehrt wieder». In den Langgedichten befasst sich Stepanova mit der Gewalt in der russischen Geschichte.
Stepanova studierte am Maxim-Gorki-Literaturinstitut und ist seit 2012 Chefredaktorin von «Colta.ru», einem unabhängigen Onlinemagazin mit Schwerpunkt Kultur und politisches Feuilleton. Zuletzt wurde es von den russischen Behörden abgeschaltet und ist nur noch über eine verschlüsselte VPN-Verbindung erreichbar. Stepanova lebt in Moskau.