Putin-Hermeneutik : Wokeness wegballern

Nr.  11 –

«Die Fakten», so beginnt ein Newsletter zum Krieg in der Ukraine, geschrieben vom Publizisten Markus Somm. Aus der Coronapandemie sind solche Zuschriften, die Fakten versprechen, noch gut bekannt, weil sie selbige eher selten transportieren. Nicht anders verhält es sich bei Somms Memo: Kiew umzingelt, Bombardierung geht weiter, «Putin ist am Gewinnen». Abpfiff, das Spiel ist aus, Sieg in der regulären Spielzeit.

Profi Somm weiss, dass grosse Krisen nach permanenter Einordnung verlangen – aber nicht zwingend nach Expertise. Auf den Gestus kommt es an. Gut zu beobachten auch bei anderen notorischen Weltendeutern wie dem Talkshowphilosophen Richard David Precht, der dem «Blick» verriet, er schaue «maximal mitfühlend und maximal kühl» auf den Krieg, «beides nebeneinander, unversöhnt». Bitte was? Maximale Konfusion.

Aber nicht nur Disziplinen wie die Philosophie sind in Verruf geraten – auch in einst angesehenen Berufsfeldern wie der Putin-Hermeneutik machen sich Scharlatane breit. «Putin wird siebzig. Seine Libido auch. Die Lust steigt in seinen Blick. Er sieht Russland als Grossmacht im eurasischen Raum», stand am Tag der Invasion in der «Weltwoche», die seit jeher einen erotischen Kitzel verspürt in der Auseinandersetzung mit dem russischen Präsidenten.

Deren Chef Roger Köppel lüstelt seit Wochen ungezügelt: «Während sich unsere Politiker damit befassen, ob Minderjährige ohne Einwilligung der Eltern bei der Einwohnerkontrolle für siebzig Franken ihr Geschlecht abändern dürfen, fährt Putin mit seinen Panzerdivisionen auf.» Viel Zuneigung für den Diktator, der auf seinem Feldzug gleich noch die Wokeness aus den Universitätstoiletten ballert. Und wenn Christoph Blocher entzückt vom «Abschied von einer realitätsfremden, windigen Lebensauffassung» spricht als Folge des Krieges, dann spürt man vor allem die Libido eines Mannes, der seinen Achtzigsten doch auch schon durch hat.

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, heisst es. Tatsächlich stirbt als Erstes die Einsicht, einfach mal zu schweigen, wenn man nichts Schlaues zu sagen hat.