Erwachet!: Womit heilt man Krieg?

Nr. 13 –

Michelle Steinbeck hört Theaterschaffenden zu.

Die ukrainische Dramatikerin Natalia Blok schreibt 2017 eine unheimlich prophetische Geschichte. Die Kinder der Erzählerin kommen aus der Schule nach Hause, die wegen Quarantäne auf unbestimmte Zeit geschlossen ist. Bald ist klar, dass ihre eigenen, unerklärlichen blauen Flecken damit zusammenhängen. Eine mysteriöse, hoch ansteckende Epidemie breitet sich aus. Die Haut der Menschen verfärbt sich zu einem schmerzhaften Camouflagemuster. Keine Medizin hilft, denn die Ursache der Krankheit ist Krieg. Als auf dem Bildschirm die Frage «Womit heilt man Krieg?» auftaucht, schreit die Tochter den Fernseher an: «Wie, womit? Den Krieg muss man mit Frieden heilen!»

Nach der Lesung in Basel appelliert die Autorin ans Publikum: «Geht zu eurer Regierung und fordert Waffen für die Ukraine.» Es ist Mitte März 2022. Das Theater der Dramatiker:innen in Kiew wurde vom Krieg versprengt. Im Theater Basel erzählen die Mitbegründerinnen Natalia Blok und Julia Gonchar von der Entstehung des Kollektivs: Wie Theaterautor:innen in der Ukraine zu wenig gewürdigt werden; wie das Theater ein Versuch war, dem etwas entgegenzusetzen … Sie brechen ab. Es war eine andere Zeit. Bevor Schutz suchende Menschen unter den Trümmern eines Theaters begraben wurden. Stattdessen zählen sie auf, wer noch zum Kollektiv gehört und wer sich gerade wo befindet. Manche sind geflohen, andere verstecken sich in Bunkern, wieder andere haben sich entschlossen, mit der Waffe zu kämpfen. Sie möchte weinen, sagt Julia Gonchar auf der Bühne, sie sterbe vor Sorge um ihren Freund, der bleiben musste.

«Fliehen oder Bleiben» ist auch der Titel der Veranstaltung, die auf Initiative des Kollektivs durchgeführt wurde. Julia Gonchar plant, sie in viele verschiedene Städte zu bringen: «Dies war erst der Anfang, der erste Halt.» Sie reist weiter nach Deutschland, wo wie auch in Österreich zahlreiche Notfall-Residenzstipendien für kunstschaffende Geflüchtete aus der Ukraine geschaffen wurden. Natalia Blok möchte in der Schweiz bleiben, wo ein ähnliches Angebot aber bisher noch aussteht.

Die Historikerin Olha Martynyuk aus Kiew hat eine Postdocstelle an der Uni Basel bekommen. Auch sie hat an diesem Nachmittag an einem Podiumsgespräch teilgenommen. Nach der Veranstaltung gehen wir zusammen weiter, in eine Bar. Es riecht nach Ballonen, die zu Hunderten von der Decke hängen. Im Hintergrund läuft Abba, im Vordergrund eine Diskussion über Wolodimir Selenski. Hat er zu spät reagiert? «Erste-Hilfe-Kurse für die Zivilbevölkerung», sagt Olha Martynyuk, «wären in keinem Fall verkehrt gewesen.» Ausserdem habe er Kulturgelder auf Kosten des Militärs gestrichen. «Wofür kämpfen wir, wenn danach keine Kultur mehr da ist?» – «Wofür brauchen wir Kunst, wenn alle tot sind?»

Natalia zeigt auf das WLAN-Schild und fragt nach dem Passwort. Sie öffnet Instagram, zeigt Fotos: «Von meinem alten Leben.» Sie und Schauspieler:innen bei Proben. Ihre Kinder, die in der Ukraine geblieben sind. Eine Georgienreise. Ein Sommertag am Dnipro, dem Fluss, der durch die Ukraine, Belarus und Russland fliesst; Freund:innen, die ins Wasser springen.

Als wir ins Freie treten, steht der Vollmond gross und gelb über den heilen Dächern von Basel. Wir schauen eine Weile schweigend, bis Natalia Blok sagt: «Auf dass die Hexen den Himmel über der Ukraine schliessen.»

Michelle Steinbeck ist Hausautorin am Theater Basel und Studentin an der Uni Basel.