Tagebuch: Und den Krieg vergesse ich. Nicht.

Nr. 15 –

Vor dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine waren wir in Ägypten, in Dahab auf der Sinaihalbinsel. Dort begann ich, diese Texte zu schreiben.

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21. Februar 2022

Ich habe nicht Krebs, nicht HIV. Aber ich bin ständig schwach, mit kurzen Phasen glücklichen Wohlbefindens. Ja, ich weiss, so was sollte man nicht schreiben, «nicht» sollte man nicht einmal benutzen, denn das Gehirn nimmt nicht nimmt nicht nimmt nicht wahr. Du kannst nicht, du kannst nicht, du kannst nicht schlafen! Morgens träume ich von einem Wetteransager im Anzug. Ich kann mich nicht konzentrieren, wandle ohnmächtig durch die Geschäfte, überrede eine Freundin, ein teures Adidas-Sweatshirt für 2000 Hrywnja zu kaufen.

In Wirklichkeit ist heute der 21. Februar 2022. Endlich schreibe ich diese Zeilen, diese schlaffen Worte der Verzweiflung – mein Magen schmerzt, leise, in Wellen. Weswegen? Ich kann den Krieg zwischen der Ukraine und Russland, der seit 2014 im Donbass tobt, nicht verdauen, den Überfall, die 150 000 Soldaten an der Grenze liegen mir schwer im Magen, genauso wie dieser köstliche Schawarma oder diese Mango, die süsse, diese Mango, die saftige, von der ich kotzen muss. Jetzt esse ich nichts ausser plain rice – plate of rice – nice rice. Als ich die Nachrichten schaue, packt es mich wieder. Der Reis entzieht meinem Körper Schlacke und Wasser, und obwohl es reichlich Wasser gibt – das ganze Rote Meer ist voll davon –, werde ich von Wellen drängender Angst überrollt. Warum ist es rot? Alles Blut? Menstruation der Erde?

24. Februar

Drei Tage später greift Putin nicht an, er zieht die Truppen zurück, der grauhaarige General sagt vor der Kamera: «Wir haben die Schnauze voll von der Kälte, vom Hunger auf plain rice, wir scheissen auf die Ukraine, auf die Orks, why does Ukraine matter? Lieber spritze ich nach dem Bettkrieg meiner Anastasija einen Blitzspritz auf die Matratze, lieber esse ich Schawarma, schwimme im Roten Meer, beobachte einen Feuerfisch, wie dieses Vieh mich anwidert.» Ich programmiere, programmiere mein Gehirn auf eine Version der Realität, in der alles in Ordnung ist, wo mich der Wetteransager im Fernsehen aufweckt. Putin hält eine Rede im Fernsehen. Liliputin redet. Give me Vesper! Nur Wodka brauch ich nicht. Das Blutmeer brauch ich nicht! Geh weg von mir! Lass mich, lass mich los, Hände weg! «Was uns der Name von Puschkin mit seinen Handflächen gibt», so sangen wir im russischsprachigen Gymnasium, im Scheissnasium, wie es die benachbarte Hauswartin aus dem ersten Stock nannte. Meine Eltern haben sich immer über sie lustig gemacht, warnten mich, dass ich auch Hauswartin werden würde, wenn ich zu faul bin und zu wenig lerne. Es kam dann so, dass ihre Familie in den Neunzigern einen Zarenbalkon anbaute und die Wohnung später teuer als Büro verkaufte.

Russische Aggression, meine Familie braucht Munition. Eigentlich ist niemand mehr übrig geblieben, nur eine Tante in Moskau, und die hat Krebs. Am meisten fehlt mir die Hündin Athena. Ein Bullterrier, das gutmütigste Geschöpf der Welt, hat Angst vor Katzen, weil sie einmal von einer Mutterkatze verprügelt wurde – eine schreckliche Szene –, ein Kindheitstrauma, seitdem fürchtet sich Athena sogar vor Katzenbabys. Athena hat auch Krebs. Putin erkennt die Volksrepubliken Luhansk und Donezk an. Putin verlegt Truppen auf ihr Territorium. Und das alles, während ich Schawarma esse und auf meinen Magen, meine Schwäche pfeife. Alles wird gut.

25. Februar

Mein Freund Serjoscha telefoniert mit seinem Vater, sein Vater liegt in Kyjiw in einem Hochhaus auf dem Sofa und weigert sich, in den Luftschutzbunker zu gehen.

Serjoschas Vater: Deine Familie reift heran. Du wirst Kinder haben. Du hast fast eine Ehefrau.

Serjoscha: Das alles interessiert mich nicht. Ich habe dir gesagt, was ich tun werde.

Schwester von Serjoscha: Vielleicht bleibst du besser in Polen? Oder wenigstens in Lwiw?

Serjoscha: Was laberst du für Scheisse?

Zwei Wochen vor dem Krieg

Ich habe einen Traum, ein russischer oder belarusischer Soldat zieht bei einer Kundgebung eine Waffe und fängt an, auf die Menge zu schiessen. Ich bin hundert Meter davon entfernt. Ich denke, ich sollte mich auf den Boden legen. Liegend sehe ich zwei Frauen. Die Uhr zeigt 00.20, und ich denke, man sollte mit einem Flugzeug oder der U-Bahn fliehen. Die beiden Frauen steigen zur U-Bahn hinunter. Ich will keine Leichen sehen. Ich überlege, ob ich mich trotzdem umsehen sollte, aber dann stehe ich bereits vor einem Schuhladen mit gefälschten Doc Martens für 100 Hrywnja. Strumpfstiefel im Schaufenster. Was man nicht alles macht, denke ich, um coole Aufnahmen zu kriegen. Und den Krieg vergesse ich.

Ich erinnere mich, dass ich von meinem Spiegelbild geträumt habe. Ich mochte mich nicht – ich war anders, dicker. Es ist mal besser, mal schlechter mit dem Rücken. Manchmal kann ich mich bücken, dann schmerzt es wieder. Ich glaube, es ist psychosomatisch, ich sollte meditieren und träumen.

Ich träume von einer Frau, die einen Wassermelonenkürbis gebiert und ihn wie einen Bauch hält.

3. März – Ein paar Tage vor Serjoschas Abreise

Ich: Und dann kommst du, und wir bekommen ein Kind.

Serjoscha: Mhm.

Ich: Es ist nur wichtig, zuerst zu heiraten, ohne das geht es nicht. Und dann bekommen wir ein Baby.

Serjoscha: Mhm, ja, Juletschka.

13. Februar – Sinai. Eineinhalb Wochen vor Kriegsbeginn

Nach dem Kaffee habe ich einen beschissenen Traum. Ich schlafe gegen 5 Uhr nachmittags ein, davor hörte ich meinen schnellen Herzschlag und hatte das Gefühl, am Rande einer Panikattacke zu sein. Nachdem ich eine Weile mit dem Kaffee pausiert habe, wirkt sich das Kaffeetrinken wieder negativ auf mich aus – ja, ich werde zwar gesprächiger, aber dieser Zustand einer getriebenen Gazelle … Ich meditiere ganz okay, aber dann lausche ich in mich hinein und höre nur das Traben der Büffel meines Herzmuskels. Beruhigender Lavendeltee hilft nicht.

Heute ist ein seltsamer Tag – morgens träume ich von Sargwannen, in denen überwucherte Männer liegen, und zu ihnen kuscheln sich junge Mädchen, ihre Töchter. «Für Väterchen Zar würde ich einen Heldensohn zur Welt bringen …» Erst jetzt denke ich über diesen Satz nach, der uns in der Schule auf nüchternen Magen gelehrt wurde.

Es hat Serjoscha nicht gefallen, dass ich einige «unnötige» Brillen gekauft habe: eine mit roten Herzgläsern, die andere eine dunkle Wolke voller Tränen. Heute wirft Serjoscha Katzen über den Zaun, die Katze namens Pita stahl wieder Pita. Der Araber neben uns im Restaurant sieht aus wie der bärtige Mann vom Theaterfestival in dem Dorf Podwirne in Chmelnyzkyj. Er säuft Wodka, raucht Zigarren, versucht sich am Balance Board und zeigt uns im Sitzen die Hälfte seines behaarten Arsches.

Ich träume vom Geruch von Tannennadeln, / Pepsi Cola, Marlboro rot / Serviere mehr Munition / Die Schädel von Tauchern, die sind jetzt tot.

Ich habe jetzt die beste Frisur – lang genug, um die Haare zu spüren, und kurz genug, um mich nicht um das Styling kümmern zu müssen. Obwohl ich mich, ausser während der Schulzeit, nie um meine Frisur gekümmert habe.

Serjoscha: Biden sagt, Putin habe bereits eine Entscheidung getroffen, in Luhansk höre man bereits Explosionen.

Ich: In welchem Land kann man ohne Visum leben?

Serjoscha: In keinem.

Ich: Nun, vielleicht können wir irgendwo unterkommen.

Am 23. Februar 2022 veröffentlichen die Kämpfer der Luhansker und Donezker Volksrepubliken Videos, die Zivilbevölkerung solle evakuiert werden. Diese Videos haben sie schon zwei Tage zuvor gedreht.

Die Nachbarn aus London im Haus nebenan feiern Geburtstag und spielen sehr laut Kurt Cobain. Die Tankstellen in Luhansk werden von Russen gesprengt, um das dann der Ukraine vorzuwerfen.

Serjoscha ist nervös, ich auch.

Zeig mir den Weg nicht hinauf, zum Himmel. Das ist nicht nötig. Noch nicht. Fast alle Verwandten sind bereits dort. Ausser der Tante. Sie liegt mit Krebs in Moskau, und ich kann weder zu ihr springen noch schwimmen.

19. Februar

Wir fahren zum Blue Hole, einem beliebten Tauchplatz, ich auf einem Dreirad, Serjoscha auf einem normalen Rad. Das Schrecklichste ist, dass er … Ich habe Angst, auch nur daran zu denken, ich werde ihn überreden, zu fliehen.

Gestern hatte ich im Bett einen Wutausbruch auf Serjoscha. Ich habe ihn geschlagen und gespürt, dass ich es schön fand, ihn mit einer Plüschtiereule zu schlagen – irgendwas vom Obst (Erdbeeren und Physalis) muss mir den Magen verdorben haben.

In der Nacht zieht ein Gewitter auf. Wut auf Putin kommt hoch.

Ben Marcus calls the best stories «stun guns», says they hold you «paralyzed on the outside but nearly very spasming within». Hier geht es um meinen Magen.

Heute ist der 21. Februar 2022

Ich füttere die Ziegen mit Trauben und Mangoresten, es gefällt mir sehr. Nachts hat mir Serjoscha von einem Traum erzählt, den er erst nicht verraten wollte: Er habe ein Kind gesehen und gedacht, Julia mach ich auch so eins, ab jetzt werde ich sie ohne Kondom ficken. Am nächsten Morgen hat er es sich aber schon anders überlegt, und ich bekomme Angst vor Toxoplasmose, bei diesen vielen Katzen hier. Heute schreibe ich endlich eine halbe Seite, die mir sehr gefällt, danach gehen wir wie besessen Schawarma essen.

Mein Magen schmerzt nicht mehr, als wir syrisches Schawarma essen (dort wird alles gekocht und gegrillt, Tomaten und Zwiebeln) und einen Joghurt trinken. Serjoscha liest Tweets darüber, was Putin in seiner Anklagerede gegen die Ukraine alles behauptet hat. Danach schauen wir den japanischen Film «A Man Without a Map». Es gibt da einige sehr coole Momente: ein ungewöhnliches Bildformat, mit Spiegelungen und vielen Tagtraumsequenzen – in mancher Hinsicht (durch die Illusionen und den Protagonisten) erinnert der Film mich seltsamerweise an Fassbinder.

Und noch was: Nach dem Schawarmaessen sassen wir am Tisch, und ich habe geweint.

25. Februar

Serjoscha: Ach du Scheisse, da sind zwei türkische Privatflugzeuge. Die Leute fliehen.

Gemeinsam beobachten wir die Bewegungen der Flugzeuge auf Skyscanner. Eine «militärische Spezialoperation» zur Entnazifizierung wird angekündigt. Ich gehe in die Dusche.

Serjoscha: Vielleicht beschränkt er sich nur auf die östlichen Bereiche?

Ich komme aus der Dusche, glühend und nackt.

Serjoscha: Er bombardiert Kyjiw.

Ich weine hysterisch, falle auf das Bett. Er versucht, mich zu trösten. Zum ersten Mal sehe ich Feuchtigkeit in seinen Augen. Ich bin froh, dass er endlich weint. Zu welchem Preis!

Ich setze mich zu ihm und sehe mir die Nachrichten seiner Telegram-Gruppe «Cryptowolves» an.

Müde leg ich mich mit Ohrstöpseln ins Bett. Ich kann nicht einschlafen.

Serjoscha: Ich werde zur Territorialen Verteidigungstruppe gehen.

Ich bin verzweifelt

Ich: Was ist mit mir?

Serjoscha: Du kommst mit.

Ich: Nein, ich will nicht, ich geh nicht, ich piss mir in die Hose.

Videotelefonat mit Swjeta, einer Regisseurin und Freundin, am Morgen. Swjeta raucht eine Kippe in ihrer Wohnung in Kyjiw. Mit dem Chihuahua Manjascha unterm Arm sitzt sie von den Fenstern abgeschirmt hinter dem Sofa. Es wird gebombt.

Laut geheimen Informationen, die der Dramatiker Pavlo Arye in unserem Theater im Dramaturginnenchat geteilt hat, werden sie Kyjiw um drei Uhr nachts angreifen. Um zwei Uhr müssen alle in Deckung sein.

Serjoscha: Walhalla! Ich möchte ein Krieger sein, ein Wikinger!

Ich habe grosse Angst, alleine zurückzubleiben.

Nacht vom 27. auf den 28. Februar

Wir fliegen von Scharm el-Scheich nach Deutschland.

Am ägyptischen Flughafen trägt nur ein einzelner Mann eine Maske. An der Kasse im Duty-free-Shop steht ein Typ mit einer Kippe zwischen den Zähnen. In der Tabakabteilung wird geraucht. Einen Raucherbereich gibt es nicht, überall wird geraucht. Ich habe Lust, auch einen tiefen Zug zu nehmen. Camel gelb oder Marlboro rot. Obwohl, besser Camel. Ich erinnere mich an den Geschmack von Zigaretten. So widerlich und doch angenehm vertraut, wie es in meiner Kindheit aus den Kiosken und auf Basaren der Neunziger gerochen hat, wo meine Eltern Jeans verkauft haben.

Heute ärgere ich mich oft. Über die Security-Typen am Flughafen, die willkürlich Taschen durchsuchen. Es macht mich sauer – bei den Deutschen haben sie nicht gesucht, nur bei uns. Und sogar die Titten werden an jedem Durchgang betatscht. Ich würde nicht sagen, dass es mir nicht gefällt, eine Polizistin mit Hidschab summt sogar, um von den Unannehmlichkeiten abzulenken. Bein! Das andere! Jetzt hat ein Typ laut Musik auf dem Smartphone angemacht, alle hören zu. Er steht da und umarmt seine Jacke. Er kann weinen.

Serjoscha sitzt abseits, liest ständig Nachrichten auf Twitter und Telegram, er ist froh, dass ich mich weiter weg gesetzt habe. Wir essen die teuersten Panini – 150 ägyptische Pfund pro Stück, 10 Dollar. Der Flug hat Verspätung.

Nach Deutschland, nach Köln. Dort war ich noch nie. Was für eine Wendung: Wir wollten uns die Sphinx anschauen, und nun werden wir uns den Kölner Dom anschauen. Hier gibt es viele Ukrainer, ich grüsse mit «Slawa Ukrajini», achte auf die Durchsagen.

Ich ärgere mich über den Taxifahrer, mit dem Serjoscha sich auf 50 Pfund geeinigt hat, und der Taxifahrer meint dann später auf einmal: pro Person!

Und so hartnäckig. Serjoscha redet, verhandelt, und ich fange hysterisch an zu schreien, schreie.

Ich: Bei uns herrscht Krieg, und ihr gierigen Ägypter denkt nur ans Abzocken!

Er gibt nach. Wie der, der die Koffer kontrollieren will, nachgibt, als ich losschreie. Ich simse mit Serjoschas Mutter und sage ihr, dass ich Kinder möchte. Sie sagt, sie freue sich auch schon sehr auf die Enkel.

28. Februar

Ich träume in der ersten Nacht in Köln (vegetarische Kost, Mario und Karine fütterten uns mit Müsli, danach assen wir Nudeln mit Pilzen, Erbsen und Spargel). Ich träume, dass ich an einem bösen Kerl festhalte, der mir wehtut.

Ich: Was soll ich mit dir?

Der böse Kerl: Ich bin dein Stimulus!

Ich erinnere mich sehr gut an dieses Wort. In der zweiten Nacht träume ich, dass sich eine Menge versammelt, um meinen Geburtstag zu feiern, aber ich renne davon und stürze die Treppe hinunter, hinter mir Serjoscha. Ich möchte weg, weil ich eine grosse Müdigkeit verspüre. Leute schleppen mir Geschenke entgegen.

Ich: Mein Gott, wie gut es ist, wenn es Frieden gibt und keinen Krieg!

Wein. Aber ich bin so müde, dass ich nicht feiern will. Ich möchte nach Hause. Heute sind wir im grossen Kölner Dom. Die Nacht schlafen wir im zweiten Stock des Bettes. Karine beschäftigt sich mit kognitiver Verhaltenstherapie, Mario ist Medienkünstler.

Serjoscha: Wohin mit dem Papierabfall? Diese Verträge brauche ich nicht mehr.

Mario: Bist du sicher? Ich kann sie für dich aufbewahren.

Serjoscha: Der Produzent müsste noch unterschreiben, aber das wird dauern.

Die Müdigkeit im Kopf fühlt sich an wie ein Helm, wie ein Militärhelm. Plötzlich pocht es im Herz oder irgendwo darunter, im Genitalbereich, im Zentrum der Lust. Er ist gerade nicht da. Am Morgen stosse ich Serjoscha weg, bin wütend auf ihn, weil er meine Brüste und meine Genitalien berührt hat. Ich bin zornig, habe Schmerzen, will schreien. Die Erkenntnis, dass wir vielleicht für lange Zeit getrennt sein werden.

29. Februar

Ich esse lustlos, esse Trüffelkäse. Yoga ist das Einzige, was noch hilft. Ich esse irische Plätzchen mit Milch von Kühen, die auf der Wiese grasen. Wir versuchen zu scherzen, gehen im Park spazieren, und Serjoscha springt auf ein Balancierseil – ich grüble, wenn er es bis zum Ende schafft, ohne zu fallen, dann wird der Krieg aufhören. Aber er schafft es nicht. Überall herrscht Krieg! Die Freude wurde gestohlen. Sie ist meine unwiderrufliche Devi-Trauer. Bei Mario und Karine hängt ein weisser Zettel mit der Aufschrift: Don’t fall in love with your suffering!

Serjoscha macht im Dom Fotos, ich setze mich auf eine Bank und meditiere, beobachte die Gedanken in meinem Kopf. Die Füsse stelle ich auf die Stufe, es ist sehr bequem. Rundum sind die Leidensszenen Christi, überall werden dem Betrachter seine Wunden offengelegt. Die verpixelten Buntglasfenster aus dem Jahr 2007 mit dem leuchtend orangen Planeten Saturn beeindrucken mich mehr. Ich meditiere und denke nach.

Ich: Es ist bequem, man muss nicht stehen wie in christlich-orthodoxen Kirchen.

Ich erinnere mich an die Wärme meines Pelzmantels, der sich in eine nachtblaue Lederjacke verwandeln kann. Ich fühle ihre Weichheit auf meiner Haut. Ich schäme mich, dass ich für den Frieden beten soll und stattdessen an meinen Pelzmantel denke, der jetzt in meiner Kyjiwer Wohnung im Schrank hängt; falls das Gebäude noch nicht von russischen Friedenstruppen in die Luft gesprengt wurde.

Serjoscha: Nimm schnell deine Füsse von der Stufe, sie beten hier auf ihren Knien. So knien sie sich hin und beten.

Er geht schnell auf die Knie und steht wieder auf. Ich knie mich langsam auf den Holzbalken. Es schmerzt. Leiden. Wir fliegen nach Polen. Serjoscha bringt die Abflugzeit durcheinander, und statt um 23.50 Uhr fliegen wir bereits um 21.50 Uhr. Ich bringe mein Yoga zu Ende. André, ein Freund von mir, kommt mit seiner Freundin, ebenfalls Ukrainerin, zu Besuch. Schnell essen wir Curry.

Ich: Tut mir leid, ich musste das Yoga zu Ende bringen. Es ist mir wichtig, Rituale einzuhalten.

Ich zittere am Tisch. Ich zittere und rede viel. Karine gibt mir 150 Euro. Ich sage, dass das eine sehr «awkward situation» sei. Ich nehme das Geld an.

3. März

Eine Freiwillige in Polen: Ich würde meinen Freund nicht gehen lassen.

Sie sucht nach Munition und einer kugelsicheren Weste für Serjoscha.

Ich (weinend): Ich lasse ihn nicht.

Serjoscha: Was soll ich mit dieser Schussweste!

Ich: Damit ich beruhigter sein kann.

Serjoscha: Gut, wenn ich eine Schussweste habe, melde ich mich für die Stosstruppen an, sonst würde ich hinten bei den Zivilisten sitzen.

5. März

Er ist nach Kyjiw gefahren, davor hatten wir zum ersten Mal Sex ohne Kondom.

Kyjiw oder Kiew?

Städtenamen wie Lwiw und Charkiw werden in deutschsprachigen Medien längst aus dem Ukrainischen transkribiert statt aus dem Russischen. Ab dieser Ausgabe verwendet die WOZ auch für die Hauptstadt und sämtliche ukrainische Orte und Namen die korrekte Transkription: Aus Kiew etwa wird Kyjiw, aus Odessa Odesa.

Autorin und Dramaturgin

Julia Gonchar wurde 1990 in Kyjiw geboren und ist als Autorin, Dramaturgin und im internationalen Projektmanagement tätig.

Nach dem Master in International Business and Management arbeitete sie in diversen Theaterprojekten im Bereich Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit. Ihre Inszenierungen wurden in der Ukraine, in Georgien, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Thailand gezeigt. 2020 zählte sie zu den Mitbegründer:innen des Theaters der Dramatiker:innen in Kyjiw, dessen Schwerpunkt Texte zeitgenössischer Autor:innen sind.

Derzeit ist sie Stipendiatin der Sächsischen Kulturstiftung in Dresden. Sie hat dieses Tagebuch selbst ins Deutsche übertragen.