Geflüchtet (1): Du hast keine Wahl
Seid gegrüsst! Mein Name ist Natalia Blok. Ich bin Ukrainerin, Dramatikerin und Drehbuchautorin. Bis zum 24. Februar lebte ich in Kyjiw und hatte viele Zukunftspläne. Ich plante, meinen ersten Spielfilm zu drehen und dafür in Cannes eine Auszeichnung zu erhalten, eine Fernsehserie über die Ukrainer:innen der Zukunft zu Ende zu schreiben und eine Wohnung in der Nähe von Kyjiw zu kaufen. Vielleicht in Irpin oder Butscha. Ironischerweise bekam ich das Geld für die Wohnung nicht, weil dieser Krieg begann; und dann wurden jene Vorstadt von Kyjiw, in der ich mein Zuhause haben wollte, und das Leben ihrer Bewohner:innen von den Russen zerstört.
Jetzt verstecke ich mich in Basel vor dem Krieg und versuche zu verstehen, was das ist, dieser Krieg, der in der Ostukraine bereits seit acht Jahren andauert. Aber erst als ich Bomben fallen hörte, wurde mir klar, dass es im Krieg nicht nur um Kampf, Bomben und Tod geht. Das Erste, was der Krieg mit dem Menschen macht: Er raubt ihm die Wahlmöglichkeiten und die Zukunftspläne. Wir haben nur noch die Wahl, unter den Bomben zu bleiben oder das Land zu verlassen. Ich entschied mich, zu fliehen. Mein Freund, der bis zum 24. Februar Schauspieler war, entschied sich, zu den Waffen zu greifen und in den Krieg zu ziehen.
Heute schrieb mein Freund, er sei gestern in einem von den Russen zertrümmerten Haus gelegen, das fast keine Mauern habe und in dem Raketen- und Bombensplitter umherflogen. Das hat nicht viel mit der Theaterbühne gemein, die er von ganzem Herzen liebt. Mein Sohn blieb im von den Russen besetzten Cherson. Er hatte nicht einmal diese eine Wahl: Die Stadt ist besetzt, die Menschen können sie nicht verlassen. Mein Sohn macht Amateurfilme und malt. Doch jetzt muss er darüber nachdenken, wie er in einer Stadt überleben soll, in der die Medikamente ausgegangen sind, das Essen knapp wird und man jeden Moment getötet werden könnte. Also ist Krieg für mich, wenn man für dich entscheidet, zu leben oder zu sterben, wenn man dir die geplante Zukunft wegnimmt, dein Eigentum, die Blumen auf der Fensterbank, die Familienalben.
Krieg ist, wenn du jeden Tag überprüfen musst, ob dein Kind und dein Partner noch leben. Und wenn du dich darüber freuen kannst, dass es heute noch so ist.
An dieser Stelle erzählt die in Basel lebende ukrainische Theatermacherin Natalia Blok (41), was der Krieg mit ihrem Leben anrichtet. Sie ist mit der Autorin Julia Gonchar, die den Text aus dem Ukrainischen übersetzt hat, Mitbegründerin des Theaters der Dramatiker:innen in Kyjiw. «Geflüchtet» wird vom Verein ProWOZ finanziert.