Geflüchtet (6): In aller Stille spielen

Nr. 23 –

Ich habe meinen Sohn nicht auf den Krieg vorbereitet. Offenbar bereitet niemand seine Kinder darauf vor. Ich habe ihm beigebracht, sich selbst zu vertrauen, ein guter Freund zu sein, Taten zu schätzen und sein Wort zu halten. Aber was zu tun ist, wenn Krieg herrscht, habe ich ihm nicht beigebracht.

Vielleicht verliess er das besetzte Gebiet deshalb nicht im ersten Monat, weil er glaubte, dass alles bald enden würde. Dann versuchte er zu fliehen und wäre dabei fast gestorben. Und was jetzt mit ihm ist, weiss ich nicht. Denn die russischen Besatzer haben die Kommunikation wieder unterbrochen. Es ist unmöglich, sich daran zu gewöhnen.

Ich bin zermürbt von der Warterei, schon seit vier Tagen kann ich ihn nicht erreichen. Und während ich ständig auf mein Handy schaue, denke ich an andere ukrainische Kinder, deren Mütter sie auf ein glückliches Leben vorbereitet haben, und jetzt bereiten sie sie auf Arm- oder Beinprothesen vor, bereiten sich darauf vor, mit den Erinnerungen daran zu leben, wie ihre Freund:innen vor ihren Augen getötet, ihre Schwestern und Grossmütter vergewaltigt wurden. Sie bereiten sich darauf vor, zu hören, dass ihr Vater oder andere Verwandte nicht mehr leben.

Alle Ukrainer:innen, mit denen ich letzte Woche sprach, sagten, sie wüssten nicht, wie sie weiterleben sollen. Was sie tun, wo sie wohnen und wie sie planen sollen. Ich spreche mit Ukrainer:innen und höre von den Panikattacken ihrer achtjährigen Töchter. Ich höre von vierzehnjährigen Kindern, die nach einer Vergewaltigung aufgehört haben zu sprechen, von Kindern, die nach Monaten im Keller gelernt haben, in aller Stille zu spielen. Weil ihre Eltern ihnen das beigebracht haben. Damit die russischen Soldaten keine Geräusche hören und nicht in diesen Keller gehen, um zu töten und zu vergewaltigen. Ich bin es leid, mir das anzuhören. Ich denke darüber nach, was die Nachrichten sein werden, die mich endgültig brechen. Die Welt hat sich an den Krieg gewöhnt, und sie ist es leid, davon zu hören.

Der Prozess mit Johnny Depp ist das, was normale Menschen interessiert. Und das verstehe ich. Und ich will zum 23. Februar 2022 zurück. Es ist unmöglich. So wie es unmöglich ist, ukrainischen Kindern zu erklären, warum ihnen das alles passiert. Warum Russland ihr Leben zerstört. So wie es unmöglich ist, die Toten zum Leben zu erwecken und die Fragen der Kinder zu beantworten: «Wann werden wir nach Hause fahren?»

Die ukrainische Theaterschaffende Natalia Blok (41) lebt derzeit in Basel. Übersetzt hat den Text die Autorin Julia Gonchar. Die Serie wird vom Verein ProWOZ finanziert.